StartseiteAlmtraumFolge 75 vom 15. Juni 2007

Folge 75 vom 15. Juni 2007

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Obwohl Stefan aus tiefem Schlaf gerissen wurde, reagierte er prompt und schüttelte Bettinas Hände von seiner Brust ab.

»Sie haben vier Stunden geschlafen. Ich habe etwas zu Essen gemacht«, sagte sie.

Stefan richtete sich auf und massierte Augen und Stirn mit den Fingerspitzen.

»Sie hätten für mich nicht die Nacht durchfahren müssen«, sagte Bettina. »Lessingstraße. Nur zwanzig Minuten Fahrzeit.«

Stefan musterte sie über die Finger hinweg. »Ich habe vergessen, Ihnen Wäsche zum Umziehen herauszulegen.«

»Ich habe mich an den Ofen gestellt. Das Kostüm ist wieder trocken.«

Er wartete mit dem Ankleiden, bis sie den Raum verlassen hatte. Die Hütte war wohlig warm. Sie hat den Ofen versorgt, stellte er zufrieden fest. Auf der Herdplatte standen ein Topf und eine abgedeckte Pfanne in Warmhalteposition.

»Spaghetti Bolognese!« sagte er mit der Begeisterung eines frisch vermählten Ehemannes, dessen Frau soeben die Zubereitung des ersten gemeinsamen Mahles gelungen war. »Sie haben den Speiseplan gelesen, den Vorratsschrank im Stall gefunden und das Geschirr!«

»Ich hatte Zeit genug.«

Der Tisch war für zwei Personen gedeckt. Die Servietten lagen gefaltet auf dem Teller – er legte für gewöhnlich die aufgerissene Packung auf den Tisch -, die kleine Vase mit der getrockneten Distel stand nicht mehr auf der Kommode, sondern in der Mitte zwischen den Tellern, und eine Kerze brannte, ohne dass sie das Dämmrige des Raumes erhellen konnte.

Stefan vermischte die Fleischsauce mit den Nudeln. »Da denke einer schlecht von Lektorinnen.«

Bettina ließ das Besteck auf den Teller fallen. »Sie widerlicher kleiner Schreiberling …«

»Na«, protestierte Stefan und drehte die Gabel in seinem Löffel. »Steht Ihnen gut, wenn Sie in Rage sind.«

»Sind das die originellen Dialoge, um die Sie sich bemühen wollten?« Bettina nahm das Besteck wieder auf. » Was hätte ich damit gewonnen, für mich allein zu kochen?« fuhr sie in ruhigerem Ton fort. »Eine halbe Stunde später zu essen hätte Ihnen nichts ausgemacht. Übrigens habe ich die andere Hälfte des Hackfleisches angebraten. Hält sich das Fleisch im Stall?«

Stefan nickte. »Ein paar Tage, wenn es nicht zu heiß wird.«

»Die Schneefallgrenze sinkt auf vierzehnhundert Meter. Morgen soll sich zum Mittag hin die Wolkendecke auflösen.«

Stefan hielt mit dem Drehen der Gabel inne.

»Ich habe auch das kleine Radio im Wandschränkchen gefunden. Der Empfang ist miserabel. Die Batterien sind ziemlich am Ende.«

Prüfend schaute er Bettina an. »Sie haben Nachrichten gehört. Gibt es Neuigkeiten?«

Bettina schüttelte den Kopf. »Nein, wenn Sie das meinen. Wir sind in Österreich, nicht wahr?«

Stefan nickte.

Schweigsam aßen sie zu Ende.

»Ich habe Scheißangst«, brach Bettina die Stille. »Entführung ist keine Spielart von Überlebenstraining, sondern ein kriminelles Delikt. Auf Sie wartet das Gefängnis oder die Psychiatrie. Und ich werde alles tun, Ihre Wartezeit darauf zu verkürzen. Trotz meiner Angst. Sie treiben ein mieses Spiel, bei dem ich mitspielen soll – sagen Sie mir endlich die Regeln!«

»Ich möchte einen Roman von Ihnen. Ich dachte, Sie hätten das bereits verstanden.«

»Beruhigend zu wissen, dass Sie mich nicht für eine Millionenerbin halten. Das ist wohl auch der Grund, warum ich nicht gefesselt und geknebelt im Kuhstall liege.«

»Fesseln behindern beim Schreiben.«

»Nicht eine einzige Zeile!«

»Wir spielen Misery mit umgekehrtem Vorzeichen. Und einer geringfügigen Änderung: Ich lasse mich von Ihnen nicht mit der Schreibmaschine erschlagen.«

»Sie wollen etwas in der Art von Stephen King?«

»Nicht unbedingt. Es freut mich, dass Sie nicht nur Bücher lesen, sondern auch ins Kino gehen.«

»Ja – und? Wissen Sie denn überhaupt, was ein Buch ist?«

Stefan überlegte. »Bedrucktes Papier?«

»Falsch. Ein veröffentlichtes Manuskript.«

Stefans Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Sie sind sehr clever. Legen gleich den Finger in die Wunde. Können Sie auch so pointiert schreiben?«

»Nicht für Sie!«