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StartseiteAlmtraumFolge 67 vom 7. Juni 2007

Folge 67 vom 7. Juni 2007

Von der Jausenhütte zog sich der Weg zunächst in flachen, dann in steileren Kehren den Berg hinauf. Stefan schaltete in den Steilstrecken in den ersten Gang zurück. Die ausgewaschenen Fahrspuren zwangen ihn zu einem Zickzackkurs um Schlaglöcher und die kantigen Köpfe von Felsbrocken, die Schnee und Regen im Weg freigelegt hatten, die verwitterten Brücken über die Quellzuläufe zur Priach waren ihm nicht geheuer genug, um darüber hinweg zu fahren, ohne nach den tragfähigsten Stellen zu schauen. Soweit der Zustand des Weges nicht seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte, beobachtete er Bettina. Sie war unruhig geworden, ihr Kopf schaukelte mit den Unebenheiten und sie atmete schwer. Immer wieder geriet der Weg in die Nähe des Baches, der sich zwischen Felsbrocken und Bäumen tief in die Bergflanke eingegraben hatte und Gischt schäumend zu Tale stürzte. Tagsüber war ein Blick nach links in den Abgrund atemberaubend, heute Nacht klammerte sich Stefan mit den Scheinwerfern fest an die Bergseite.

Ein Viehgatter sperrte den Weg und markierte das Ende des Waldes, oder den Anfang, wenn man es von der Alm aus sah. Weiter oben gab es nur noch Stacheldrahtzäune, die über Kämme und Grate gespannt verhindern sollten, dass das Vieh abstürzte oder aus dem Lungau in den Pongau auswanderte und umgekehrt.

Stefan zog die Handbremse, rannte zum Gatter und zurück zum Auto, fuhr hindurch und wiederholte die Prozedur. Der Weg mündete in weitem Bogen in eine sanft ansteigende Fläche. Die Berghänge standen hier schon dichter zusammen als unten an der Jausenhütte, doch reichte der Platz für den Bach, den Weg und ein Stück Almwiese.

Beim nächsten Gatter hatte er Schwierigkeiten mit dem Schließmechanismus, der nur von einer Seite zu betätigen war. Nachdem er den Wagen durch das Gatter gefahren hatte, hantierte er einige Zeit blind, bis der Riegel einrastete. Bevor er weiterfuhr, stellte er das Gebläse der Heizung höher und rieb sich die klammen Finger im warmen Luftstrom.

Vom zweiten Gatter waren es nur einige hundert Meter bis zu der mit Steinen ausgekleideten Rinne am Ende einer mächtigen Geröllhalde, die eine Mure hinterlassen hatte und die nur während der Schneeschmelze oder nach heftigen Regenfällen Wasser führte.

Stefan ließ die Vorderräder in die Rinne einlaufen, stoppte, zog mit viel Gefühl den Wagen vorne soweit heraus, bis die Räder hinten in der Rinne standen und bremste sanft. Schrammen hatte es immer nur dann gegeben, wenn der Wagen mit zuviel Schwung in die Rinne einschaukelte. Mit wenig Gas bekam er die Hinterräder heraus und hatte das Hindernis passiert.

Bettina lag wieder ruhig.

Dünne Tropfen landeten auf der Windschutzscheibe und vermehrten sich schnell. Stefan schaltete den Scheibenwischer ein. Heute Nacht würden sie nicht mehr zur Walln-Alm kommen. Selbst wenn er Bettina weckte, könnte er sie nicht schlaftrunken mit dem Lastenlift nach oben bringen. Das Risiko, dass sie unterwegs aus Panik aussteigen würde, war zu groß.

Der Weg endete vor einer Felswand als Fahrspur im Gras. Helle Kalkfelsen reflektierten das Licht der Scheinwerfer. Stefan bog in ein Lärchengehölz und fuhr bis vor einen Schuppen. Die rechte Hand zum Schutz gegen den Nieselregen vor Augen haltend, löste er den Holzriegel des Tores, es sprang unter Spannung ein kurzes Stück auf und blieb im nassen Gras vor seinen Füßen stecken. Mit viel Kraft schleppte er das Tor über das Gras, bis es weit offen stand.

Die Scheinwerfer erhellten ein Rechteck aus grauen Latten. Beim Einfahren des Wagens tauchten aus dem Schatten in der hinteren Ecke zwei aufeinander gestapelte Bierkästen mit leeren Flaschen und ein blauer Plastiksack auf. Den Müllsack musste er beim letzten Besuch schlicht vergessen haben.

Stefan schaltete das Licht aus und drehte den Zündschlüssel. Die Temperatur im Wagen würde sich ohne Heizung nicht lange halten lassen. Von der Rückbank zog er eine Decke nach vorne, die sich mit einem Reißverschluss zu einem Schlafsack zusammenlegen ließ, und deckte sich und Bettina damit zu.

Der Nieselregen war auf dem Holzdach nicht zu hören. Das ewige Getöse der Priach, die in einiger Entfernung einen Höhenunterschied von über hundert Metern teilweise senkrecht überwand, übertönte den Aufprall der feinen Tropfen.