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Den ganzen Sonntag über las Stefan in seinen Manuskripten. Erst vor dem Zubettgehen machte er sich Gedanken, warum das Telefon nicht ein einziges Mal geläutet hatte. In seinem Alter musste er doch Verabredungen haben. Trieb er Sport? Hatte er keine Freundin? Für einen Augenblick beschlich ihn Sorge. Nein, er bemerkte keine Anzeichen spezieller Neigungen an sich.
Am Montagmorgen wurde ein nicht durch Warten oder Nachforschen zu lösendes Problem akut. Wenn er zurück in das Leben draußen wollte, benötigte er eine Grundausstattung an Herrenbekleidung. Die zweihundert Euro aus dem Portemonnaie brachten ihn nicht weit, rechnete er Hemden- und Hosenpreise zusammen. Hoffentlich hatte er Geld auf dem Konto.
Schon mit dem Aufstehen und zwischen den anderen Überlegungen beschäftigte ihn die Frage, ob er als Mann oder als Frau einkaufen sollte. Mit der vorhandenen Damengarderobe gab er sich der Lächerlichkeit preis, wenn er versuchte, wie ein Mann auszusehen. Mit dem schon anprobierten Sommerkleid und dem Strohhut würde er als nicht ganz gelungene Frau überzeugender wirken und weniger Aufmerksamkeit erregen, dachte er. Schuhe! Wenn er sich als Frau auf die Straße wagte, brauchte er zuallererst ein Paar Damenschuhe, auch wenn das Geld dafür aus dem Fenster geworfen war. Bis zum Schuhgeschäft könne er in Badelatschen gehen, weiter traute er sich nicht. Für die Junisonne mit ihren sommerlichen Temperaturen wäre er gekleidet wie eine Mischung aus einem Badegast und einer Sommerfrischlerin. Nur mit dem Slip hatte er Mühe und er überlegte, ob er nicht unten ohne gehen sollte, bis er einen fand, der so geschnitten war, dass ihm das da nicht ständig nach rechts oder links herausrutschte.
Stefan schloss die Wohnungstür geräuschlos ab. Noch bevor er die Treppe erreichte, öffnete sich die Tür nebenan. Überhastet verlor er den rechten Badelatschen und musste zwei Schritte zurück.
Die Nachbarin verharrte an der Tür, die Hand am Knauf. Nach seinem flüchtigen Eindruck schaute sie unfreundlich bis feindselig. Das fängt gut an, dachte er, gleich die erste Begegnung ist ein durchschlagender Erfolg. Unten auf der Straße würden die Leute reihenweise mit den Fingern auf ihn zeigen und sich zuraunen: Stefan Bruhks ist eine Tunte! Trotzdem eilte er so schnell die Badelatschen dies zuließen an der Nachbarin vorbei und die Treppenstufen hinunter. Er musste sich überwinden, die Haustür zu öffnen, erst die Schritte der Nachbarin auf der Treppe gaben den Anstoß.
Stefan trat hinaus auf die Straße. Trotzig summte er Ich bin, was ich bin, und das was ich bin, ist einzigartig … Zugegeben, vielleicht benahm er sich wie ein Narr, aber deshalb wollte er nicht bis auf weiteres daheim im Käfig sitzen. Hier draußen wärmte das Sonnenlicht angenehmer als durch das Wohnzimmerfenster. Den eigentlichen Unterschied machte die Luft, nicht die Wärme, und der Geruch der Straße – warmer Asphalt, Blumen in grauen und grünen Balkonkästen, eine achtlos weggeworfene Schale mit Resten von Pommes frites. Und der Benzindunst, auch wenn er diesen liebend gern aus der Komposition gestrichen hätte.
Er rückte das Strohhütchen zurecht und ging los. Das Kleid trug sich bequem und gar nicht fremd. Der Wind streichelte den Stoff mit sanftem Hauch über die Haut.