StartseiteAlmtraumFolge 109 vom 19. Juli 2007

Folge 109 vom 19. Juli 2007

Während sie ausruhten, zeigte er ihr den weiteren Weg. Vor ihnen lag ein Felsgrat, der am hinteren Ende nach oben schwang und in die mächtige graue Kuppel des Priachers mündete. Sie passierten den Felsgrat auf der rechten Seite über lockeres Geröll, rutschten häufig und stießen Steine polternd zu Tal. Stefan überlegte verunsichert, ob zwei Menschen genügten, um eine Mure loszutreten und war deshalb erleichtert, als sie auf festem Boden anlangten. An dieses Detail des Aufstieges mit Hermann konnte er sich noch gut erinnern; sie waren in gehobener Stimmung und hatten übermütigen Spaß an dem Gepolter.

»Dreihundert Meter bis zu Gipfelhöhe«, erklärte Stefan, »und dann noch zweihundert bis zum Gipfelkreuz.«

»Eine runde Sache, dieser Gipfel, wie glatt geschmirgelt.«

»Warten Sie, bis sie oben sind.« Er kramte in seinem Rucksack und holte einen gefalteten Leinenhut heraus, dessen Krempe rundherum herabhing. »Hier, nehmen Sie meine Mütze. Ich kann nicht unterscheiden, ob Ihr Gesicht von der Anstrengung oder von der Sonne rot ist.«

»Haben Sie auch etwas zu Trinken mitgenommen?«

Verlegen reichte er ihr eine kleine Flasche Mineralwasser.

Den Schlapphut lehnte sie ab. Geduldig redete er auf sie ein, bis sie den Hut schließlich akzeptierte, aber nur für die Zeit, die sie am Gipfel allein blieben.

Stefan erschrak innerlich. Sie würden anderen Wanderern begegnen – er hatte diesen Umstand glatt verdrängt. Wie würde Bettina reagieren? Laut schreiend mit dem Finger auf ihn zeigen: »Dieser Mann hat mich entführt! Retten Sie mich?« Nein, schon die Art, wie er sich die Situation veranschaulichte, zeigte ihm, wie wenig wahrscheinlich sie war. Eine verstohlene Handbewegung an seine Stirn würde auf die Leute glaubhafter wirken als Bettinas Hilfeschrei. Sie war wohl kaum auf eigenen Wunsch auf die Priacher Kalkspitze gestiegen, um ihn an irgendwelche Wanderer auszuliefern, die auch nichts ausrichten konnten. Schließlich lag sie nicht in Fesseln und war ersichtlich keiner unmittelbar drohenden Gefahr ausgesetzt.

Mit gleichmäßigem Schritt ging er bis zum Gipfel voraus. Er begrüßte das Holzkreuz wie einen alten Bekannten mit einem Handschlag.