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StartseiteAlmtraumFolge 108 vom 18. Juli 2007

Folge 108 vom 18. Juli 2007

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Die Decker-Alm hatte die Größe von zwei durchschnittlichen Wiesen und die Form eines unregelmäßiges Ovals, umsäumt von Gebirgswald. Die Almhütte nutzte eine halbwegs ebene Fläche aus, war aber nicht so lang gestreckt wie die Walln-Hütte. Spitzwinklig hinter der Hütte lag das Stallgebäude.

»Handarbeit macht ökonomisch«, sagte Stefan zu Bettina. Sie war stehen geblieben und betrachtete die Hütte aufmerksam. »Da wurde nichts ausgehoben und planiert, sondern stets dort gebaut, wo es passte.«

»Darum geht es nicht. Ist die Hütte noch bewirtschaftet?«

»Im Priachtal gibt es keine Senner mehr. Der Walln-Bauer erwähnte, dass die Hütte verpachtet ist, aber ich habe noch nie jemand hier wohnen sehen. Manchmal heißt es auch, die Jäger würden hier übernachten, wenn sie früh auf die Hochalmen wollen.«

»Aus welchem Grund hat der Bauer den Stall erneuert, wenn er die Alm aufgegeben hat?«

»Wie meinen Sie das?« fragte Stefan überrascht.

»Das Holz ist heller, längst nicht so grau und dunkelbraun von der Sonne verbrannt wie die Hütte, also neuer«, erklärte sie.

Das Holz ist neuer … verbrannt … der Stall … Eine Flut von Bildern überschwemmte Stefans Gehirn. Geblendet schloss er die Augen. Alfred? Alfred gab keine Antwort.

»Ist Ihnen wieder übel?« fragte Bettina. »Sie sollten einen Arzt aufsuchen, wenn Sie wieder zu Hause sind.«

»Das ist eine verrückte Geschichte«, sagte er langsam und machte eine Pause, als müsse er sich für die Verrücktheit erst sammeln. »Eine Geschichte« – wieder hielt er inne – »auf die ich nicht besonders stolz sein kann. Der Stall ist vor einigen Jahren im Winter abgebrannt. Man vermutet Skifahrer, die vom Tauernhöhenweg über den Oberalmsattel in das Priachtal wollten und vom Wetter überrascht in einer Hütte Unterschlupf suchten, aber nur in den Stall eindringen konnten.«

 

»Das verspricht interessant zu werden«, meinte Bettina. »In welcher Weise waren Sie beteiligt?«

»Das ist kein Thema für zwischendurch. Vielleicht später.«

»Ich werde Sie erinnern«, versprach Bettina. »Wollen wir weitergehen? Der Priacher wartet auf uns.«

Stefan nahm die Richtung auf eine offene Stelle im Waldsaum, aus dem ein Bach in die Wiese mündete und die Alm mit Wasser versorgte. Den Bachlauf hoch wurde der Wald dichter und erschwerte das Fortkommen. An einer günstigen Stelle wechselte Stefan auf die andere Bachseite, stieg mal in die Falllinie, dann parallel zum Berg, die lichten Stellen suchend, aber stetig aufwärts. Nur wenn der Fels aus dem Hang trat, opferte er mühsam gewonnene Höhe und umging das Hindernis unterhalb.

»Beinahe wie im richtigen Leben«, sagte er atemlos in einer Pause. »Ist Ihr Lebensweg immer geradeaus verlaufen? Und stets aufwärts?«

Bettina schüttelte den Kopf, atmete hörbar ein und aus, den Kopf auf die Brust geneigt und die Hände auf die Knie gestützt. »Die Karriere ist kein Weg, sondern eine Leiter. Steil«, brachte sie heraus.

»Dann werde ich Sie jetzt befördern«, sagte er.

An der Baumgrenze trafen sie auf karge Wiesen. In steilem Winkel lag der Berg vor ihnen. Aufrechtes Gehen war nahezu unmöglich. An Grasbüscheln und Zwergsträuchern ziehend arbeiteten sie sich höher.

»Ich kann nicht mehr«, stöhnte Bettina, als sie den Anstieg überwunden und am Rand eines Geröllfeldes angelangt waren. Sie warf sich schwer atmend rücklings ins Gras und schloss die Augen vor der Sonne. Stefan stand eine ganze Weile keuchend neben ihr, bis genügend Energie gesammelt war, den Rucksack abzunehmen und sich zu setzen und nicht wie Bettina fallen zu lassen.