
Ohne Barbara Fellgiebels Impressionen ist die Frankfurter Buchmesse nicht wirklich vorbei. Diesmal empfand Barbara Fellgiebel den Besuch aus mehreren Gründen als anstrengend.
Alle Jahre wieder beginnt mein Frankfurter Buchmessenbesuch mit der dbp-Verleihung. dbp ist der Deutsche Buchpreis, der in diesem Jahr zum 21. Mal für den besten Roman des zurückliegenden Jahres verliehen wurde. Den besten? Nein, den Roman. So steht’s im Internet. 25.000 Euro gibt’s für die Gewinnerin oder den Gewinner, 2.500 Euro je für die anderen fünf Shortgelisteten.

Vieles ist anders in diesem Jahr – das beginnt mit krankheitsbedingten Absagen von Freunden und Freundinnen, Autoren und Autorinnen und der lapidaren Feststellung: Denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.
Auch wenn ich mir noch so sehr verbiete, Erwartungen zu haben, empfinde ich doch starke Enttäuschung und Traurigkeit, wenn Begegnungen, Wiedersehen und Interviews, auf die ich mich gefreut habe, nicht stattfinden können.
Dies ist der zweite Anlauf meines Artikels – der erste ist im Internet-Orkus mit dem Absturz meines Computers spurlos verschwunden. Ich tröste mich (und Sie) damit, dass dieser Artikel bedeutend persönlicher wird und von im Netz abrufbaren Statistiken und Vergleichszahlen von Besuchern, Ausstellern, Nationen etc. weitgehend bereinigt ist – das klaube ich kein zweites Mal zusammen. Ein bisschen erinnert das an die charmante Rede der Frankfurter Kulturdezernentin Ina Hartwig, die ihr vorbereitetes Manuskript nicht lesen konnte, weil sie ihre Brille vergessen hatte. Das Ergebnis war erfrischend KI-frei. Ihr Mann, der Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler, sitzt neben mir und wir werfen uns respektlose Kommentare zu.

Davor hatte ich ein nettes Gespräch mit einer ehemaligen Kulturpolitikerin, die entsetzt und enttäuscht die Shortlist der Kandidatinnen und Kandidaten durchgeht und lautstark ihrem Unmut Luft macht: Warum haben deutsche Autorinnen und Autoren keine Fantasie? Warum kann niemand eine gute Geschichte erzählen? Können sie denn nur über die eigenen Familienmitglieder schreiben? Warum muss alles von Ich-Ich-Ich handeln? Warum ist hier kein Roman, der mich fesselt, mich in seinen Bann zieht, aus dem ich nicht mehr auftauchen möchte?
Da ist etwas Wahres dran. Die Hauptthemen dieser Buchmesse sind mehr oder weniger biografische Werke, Migration, Flucht, Klima, Demokratieschwund. Alles ist dunkel, düster, autofiktional.
Ich genieße die weibliche Dominanz dieser Preisverleihung. Alle Sprechenden sind Frauen. Das wird nächstes Jahr anders, wenn die bedauerlicherweise scheidende Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (kann denn nicht mal eine knackige Abkürzung für diesen sperrigen Titel gefunden werden?!) Karin Schmidt-Friderichs vom Autor und Verleger Sebastian Guggolz abgelöst wird.
Das beginnt mit Julia Westlake (gesprochen /ˈwɛst.leɪk/), die im Interview mit Jurysprecherin Laura de Weck den roten Faden der Shortlist konstatiert: Gewalt, die nicht als faszinierend dargestellt wird.
Siegerin wird die Favoritin: Die in New York lebende, 43-jährige Schweizerin Dorothee Elmiger mit ihrem Roman »Die Holländerinnen«. Verhalten, unaufgeregt hat sie Mühe, ihrer Freude Ausdruck zu geben. Ganz anders Kaleb Erdmann, der frenetisch applaudiert. Die kurze Dankesrede, in der sie auch ihre Konkurrentinnen und Konkurrenten würdigt, kulminiert in dem Zitat von Marie Luise Kaschnitz: »Der Dichter ist das Sprachrohr der Ratlosigkeit seiner Zeit.«
Danach preschen alle nach vorn, um ein unspektakuläres Foto zu schießen. Ich bahne mir meinen Weg zu Kaleb Erdmann, der vor der Veranstaltung wie ein Filmstar am Römer abgelichtet wurde.

Kaleb Erdmann beim Fotoshooting vor dem Römer
Er und Thomas Melle sind die beiden Männer der Shortlist, der Rest ist weiblich. Er ist so sympathisch glücklich, es mit seinem Erstlingswerk »Die Ausweichschule« in die Shortlist geschafft zu haben und hier dabei sein zu dürfen und zeigt im Gegensatz zu Thomas Melle keinerlei Enttäuschung. Warum rechnen die meisten nominierten Männer immer gleich damit, den Preis zu gewinnen? Warum ahmen so viele Jurys die Entscheidungen anderer Jurys nach, was einen früheren Gewinner mal zu dem schönen Satz verleitete: »Mit Preisen ist es wie mit Pickeln. Wenn man erstmal einen hat, folgen noch mehr.«

Beim anschließenden Empfang bitte ich Julia Westlake, mir ihren Nachnamen zu sagen: »Westleeek! Das ist Englisch!« und nicht, wie sie sich dreimal in der Präsentation anhören musste, Westlaaake. Das erinnert mich an den schönen Song »It’s Liza with a z not Lisa with an s«, mit dem Liza Minnelli versuchte, der Welt beizubringen, wie ihr Name geschrieben und gesprochen wird. Aber ich drifte ab.
Jurysprecherin Laura de Weck ist zwar erleichtert, dass die anstrengende Sichtung der 275 eingereichten Romane vorbei ist, aber sie freut sich bereits auf die geplanten neuen Treffen, die die Jury durchführen will, weil ihnen die stimulierenden Diskussionen so gefallen haben. Ob es dazu wirklich kommt? Ja, Juryarbeit ist immer anregend, aufregend, herausfordernd und eine ständige Übung in Demokratie, das weiß ich aus langjähriger Erfahrung.
Dienstag, 14. Oktober 2025

Nanu, wo ist denn der preisgekrönte Frankfurt-Pavillon hin, der in den letzten Jahren die Agora, den aus vier Messehallen gebildeten Riesenplatz, funktionsgerecht geziert hat? Klammheimlich abgebaut und mit nichts ersetzt.
Statt zur dienstäglichen Pressekonferenz zu gehen, besuche ich meine frisch operierte, schmerzlich vermisste Fotografin und Kollegin Beate Fischer-Kanehl, auf deren bereichernde Mit- und Zuarbeit ich diesmal verzichten muss.
»The imagination peoples the air« lautet das Motto des diesjährigen Gastlandes, was mit »Fantasie beseelt die Luft« übersetzt wurde.

Um 17.00 Uhr beginnt die offizielle Eröffnung, ein im Vorfeld übergebührlich gehypter Event der ganz anderen Art mit versprochener Nicht-Einschlafgarantie. Das kann nur Enttäuschungen bringen.
Es war genau wie immer, abgesehen von dem großartigen philippinischen Madrigalchor mit Opernsängerin und eher unpassendem deutschen DJ dazu. Und drei philippinische Poetinnen verschiedener Generationen, die ein paar ihrer Gedichte vortragen aber zweimal auftreten dürfen! Einmal wäre angemessen gewesen. Okay, das hat es so noch nicht gegeben, aber sonst ist alles gleich. Viel zu viele, viel zu lange Reden. Positiv zu erwähnen ist die beeindruckende philippinische Senatorin Loren Legarda, die zehn Jahre an der Verwirklichung ihres Traums, die Philippinen als Gastland nach Frankfurt zu bringen, gearbeitet hat. Und der neue Kulturstaatsminister Wolfram Weimer, der in einem flammenden Appell die Bedeutung der Kultur, insbesondere des Lesens, preist. Er geht scharf ins Gericht mit der KI, nennt sie Datamining und meint, dass Autorinnen und Autoren zu Rohstofflieferanten degradiert und ausgebeutet werden. Autoren seien keine Contentlieferanten! Er zitiert Rilkes 1913 geschriebenes »Je weiter ich lebe…« und beendet seine Rede mit den passenden Zeilen: Nicht vor Angst verzagen, sondern mehr Rilke wagen.
Der hinter mir sitzende, lautstark schniefende und hemmungslos in die Gegend rotzende Mann veranlasst mich, mehr und mehr auf die äußerste Kante meines Sitzes zu rutschen, im vergeblichen Versuch, seinen Viren und Bazillen zu entkommen; schließlich reiche ich ihm ein Tempo-Taschentuch, das er dankend annimmt, aber nicht benutzt.
Nach 90 Minuten hat die aus ihrem Amt scheidende Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, noch immer nicht den traditionellen Hammer aufs Podium geknallt und damit die 77. Frankfurter Buchmesse eröffnet – aber ein Drittel des Publikums hat bereits den Saal verlassen. Weniger wäre mehr gewesen.

Im Foyer erfreuen wir uns an philippinischer Folklore und bahnen uns einen Weg zum Gastlandpavillon in der Hoffnung, dort die knurrenden Mägen besänftigen zu können.

Das riesige Areal ist mit übersichtlichen Inseln mit spärlich bestückten Bücherregalen und zwei kleinen Bühnen für die 100 geplanten Autorinnen- und Autorenauftritte in langweilig dezentem Beige nicht gerade ein überzeugender Ausdruck ihres Mottos, doch das werden die sprudelnd stolzen Philippinos schon mit Leben und ihrer eigenen Buntheit wettmachen.
Mittwoch, 15. Oktober 2025

Ich genieße wie immer den ersten Messetag wegen seiner angenehmen Leere, die mir in diesem Jahr aber fast zu leer ist.
Am ZEIT-Stand wird meine alte abgewetzte, aber voll taugliche große dunkelblaue ZEIT-Plastiktasche nostalgisch kommentiert. »Ach ja, die gibt es leider in diesem Jahr nicht, wir können Ihnen nur einen beigen Jutebeutel anbieten.« Nein danke, ich bin allergisch auf beige, kleide mich bewusst zunehmend bunt und bunter und errege mit meinem Regenbogenhäkelhut die herrlichsten, immer positiven Reaktionen und Einleitungen zu netten Gesprächen. Ich weise unzählige Male auf die Autobiografie der wunderbaren Irin Nuala O’Faolain hin, deren deutscher Titel »Nur nicht unsichtbar werden« mich dazu gebracht hat. Wahrscheinlich muss meine Autobiografie mal »Die Frau mit dem Regenbogenhut« heißen …
Ich genieße, einen ersten Messetag ohne eine Liste fester Termine zu haben. Mich ausnahmsweise mal einfach treiben zu lassen und Verlage, Stände, Bücher aufzuspüren, die mir sonst entgangen wären.
Am Stand der Frankfurter Rundschau fällt mir ein umfangreicher Frankfurt-Band mit Hunderten alter Fotos in die Hände. Ich bin in Frankfurt aufgewachsen und kann mich nur schwer losreißen.
Da ich in diesem Jahr mitten in der Frankfurter Altstadt wohne, nehme ich die Gelegenheit wahr, das fantastische Angebot des Open Books Lesefests zu besuchen. An fünf Tagen finden 125 Veranstaltungen überwiegend in der Altstadt statt und fast alle sind gratis zugänglich. Das wird in diesem Jahr von 15.000 Besuchern genutzt.
Meine Highlights waren Gregor Gysi, Angela Steidele, Caroline Wahl und Vea Kaiser.
Donnerstag, 16. Oktober 2025
Heute findet das alljährliche Treffen auf der Treppe mit Wolfgang Tischer statt. Freundin und Kollegin Isa Tschierschke darf auch nicht fehlen.

Ich laufe der überglücklichen Claudia Gehrke in die Arme.
»Weißt du schon, dass wir den Verlagspreis gewonnen haben?« Nein, wusste ich nicht und freue mich für sie wie Kaleb sich für Dorothee gefreut hat. Dabei handelt es sich hier um die doppelte Summe! Claudia Gehrke hat völlig unerwartet die Anerkennung bekommen, die sie sich in jahrzehntelanger Kleinarbeit verdient hat: Neben dem März Verlag und dem Unrast Verlag erhielt ihr Konkursbuch Verlag die stolze Summe von 50.000 Euro Preisgeld.
Staatskulturminister Wolfram Weimer sagte bei der Verleihung:
»Der Deutsche Verlagspreis ist mehr als eine Auszeichnung: Er ist ein Bekenntnis zur Vielfalt gegen die Monokultur, zur Qualität gegen die Quote, zum Wagnis gegen die Beliebigkeit. Mein Respekt gilt all jenen Verlagen, die mit Haltung, Mut und intellektueller Redlichkeit für die Freiheit des Wortes eintreten. Wer Debattenräume öffnet, stärkt die Demokratie; wer sie mit Ideologie verengt, verfehlt ihren Geist.«
Das katapultiert sie aus der vermeintlichen Schmuddelecke nach ganz oben.

80 weitere Verlage erhielten das mit 18.000 Euro dotierte Gütesiegel des Börsenvereins. Welch mutmachende Initiative.
Am Zeit-Stand höre ich mir verschiedene Autorinnen- und Autorengespräche an. Ich stelle fest, dass mir die Lust an Beschreibungen, die beleidigend sein könnten, abhanden gekommen ist. Nicht aus politischer Correctness, sondern weil schon eh so viel Schmäh über im Rampenlicht stehende Personen verschüttet wird, da will ich mich nicht dazu gesellen. Sie sind enttäuscht?
Das Gastland des nächsten Jahres ist Tschechien mit dem Stirnrunzeln verursachenden Motto: »Czechia – A country on the coast«. Das schluckt nur, wer die europäische Landkarte nicht kennt. Ich bin gespannt.
Freitag, 17. Oktober 2025
Ab Freitag nimmt der Besucherstrom rasant zu. Erstmalig dürfen Nicht-Fachbesucher bereits am Morgen das Gelände betreten und Bücher kaufen und signieren lassen. Und das wird in großem Ausmaß getan.
Halle 1, die Festhalle der Messe, wird in diesem Jahr erneut der endlich akzeptierten Goldenen Gans der Verlage gewidmet: New Adult, Young Adult, Fantasy und wie die Sparten alle heißen, bekommen die riesige Halle für Signaturstunden, Auftritte und alle Arten von Kaufwilligen. Lesefans treffen ihre angehimmelten Autorinnen. Hören Sie dazu das beeindruckende Gespräch, das Wolfgang Tischer mit Lilly Lucas geführt hat.
Samstag, 18. Oktober 2025
Ich halte mich wohlweislich vom Messetrubel fern, gehe shoppen und genieße am Nachmittag ein Open Books Event in der Evangelischen Akademie: Angela Steidele stellt hoch unterhaltsam ihr jüngstes Buch »Ins Dunkel« vor. Fiktive Verwicklungen von Greta Garbo, Marlene Dietrich, Erika Mann, Pamela Wedekind, Salka Viertel.
Danach geht’s nach Dribbdebach (= Sachsenhausen) zum Äbbelwoi.
Sonntag, 19. Oktober 2025

Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den renommierten Geschichtsprofessor Karl Schlögel, bei dessen Pressekonferenz ich am Freitag war. Die schlechtestbesuchte, die ich je erlebt habe. Das war bei Salman Rushdie anders.
Statt mich um einen der heiß umkämpften Presseplätze in der Paulskirche zu bemühen, stapfe ich auf dem Frankfurter Hauptfriedhof umher und suche stundenlang das Familiengrab meines erkrankten Freundes, um an seiner Stelle ein Gedenkblümchen hinzupflanzen. Die Auffrischung der Grabmarkierungen ist der Friedhofsverwaltung dringend anzuraten.
Die Verleihung sehe ich mir bequem im Nachgang zu Hause an und revidiere meinen negativen Eindruck, den ich während der Pressekonferenz von Herrn Schlögel bekommen habe. Die Rede, die Karl Schlögel hält, sollte sich jede und jeder anhören (PDF-Datei mit der Rede).
Summa summarum
Die Buchmesse strengt (mich) immer mehr an, ist aber alle Jahre wieder ein Genuss der ganz besonderen Art.
Bücherverzeichnis
Ich freue mich auf die Lektüre von:
- Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen
- Kaleb Erdmann: Die Ausweichschule
- Jina Khayyer: Im Herzen der Katze
- Ulli Lust: Die Frau als Mensch – Am Anfang der Geschichte
- Angela Steidele: Ins Dunkel
- Bettina Flitner: Meine Mutter
- Thomas Strässle: Fluchtnovelle
- Carolin Emcke: Respekt ist zumutbar
- Giulia Enders: Organisch
- Isabelle Maroger: Lebensborn
- Götz Aly: Wie konnte das geschehen?
- Caroline Wahl: Die Assistentin
Sie freut sich aber über Ihre Reaktionen hier als Kommentar oder an alfacult(at)gmail.com.


Sehnsüchtig erwartet und in gewohnter Weise interessant zusammengefasst. Vielen Dank!
Kristine Kaerger