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Konkursbuch Verlag: Vom Pornoverdacht zum Landespreis

Bildbände im Lager des KonkursbuchverlagsAlle Jahre wieder wird der baden-württembergische Landespreis für literarisch ambitionierte kleinere Verlage vergeben. In diesem Jahr, so teilte Kunststaatssekretär Dr. Dietrich Birk mit, erhält den mit 12.000 Euro dotierten Preis der Tübinger Konkursbuch Verlag.

Die Preisverleihung wird am 28. Februar im Zimmertheater in Tübingen stattfinden, verbunden mit einer Lesung von Yoko Tawada.

Wer hätte das gedacht? Noch vor 10 Jahren musste sich ebendieser Verlag des Verdachts erwehren, Pornografie zu produzieren und die deutsche Jugend zu verderben. Müssen jetzt die Politiker befürchten, zur Preisverleihung Schweinkram zu hören zu bekommen?

Preis des Landes Baden-Württemberg ist ein mutiger Schritt

Ein mutiger Schritt, den die Verantwortlichen für die Preisvergabe da taten. Denn schaut man sich das Programm des Verlages an, wird man, neben der erotischen Literatur, über die sich heute kaum noch einer aufregt, auch einige Bücher finden, die den eher seltenen Geschmack diverser »Spezialinteressen« bedienen. Auch das erfordert Mut, Mut der Verlegerin, sich Themen zu widmen, über die manche beim Durchblättern beispielsweise der Bildbände von Krista Beinstein die Nase rümpfen oder sich geschockt und angeekelt abwenden. Nicht für jeden ist sogleich ersichtlich, was Kraken auf nackten Brüsten, blutüberströmte, mit Stacheldraht gefesselte oder von rohem Fleisch »geschmückte« Frauenkörper mit Erotik zu tun haben sollen. Aber auch das findet augenscheinlich Leser und wem’s nicht gefällt, der kann es ja lassen. Degustibus non est disputandum.

Was also gibt es über den kleinen Verlag zu sagen, der 1978 aus einem politisch angehauchten Debattier-Salon der Verlagsgründerin geboren wurde? Ein Unternehmen aus der Konkursmasse der Studentenbewegung, die im Verlagsnamen ihren Niederschlag fand.

Ich lernte den Verlag 1989 kennen, als ich von einem guten Freund zur Hochzeit ein in Packpapier eingeschlagenes Bücherpaket erhielt mit der Empfehlung, es nicht im Beisein der Gäste zu öffnen. Das, was ich dann in einer stillen Minute auspackte, waren die bis dahin erschienenen Jahrbücher »Mein heimliches Auge«, ein wichtiges Standbein des Verlages.

Indizierungsverfahren gegen »Mein heimliches Auge«

Die 10. Ausgabe dieses Jahrbuches war es, die die Tugendwächter 1995 auf den Plan rief. Es wurde ein Indizierungsverfahren von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften eingeleitet. Der geäußerte Verdacht und der sich daraus ergebende Prozess, der 1999 mit einem Freispruch endete und der sogar dem SPIEGEL einen Artikel wert war, fand deutschlandweit große Beachtung, da die Pornographie-Debatte gerade in vollem Gang war. Hierzu weise ich auch auf eine sehr interessante Untersuchung zum Thema hin.

Dr. Herrad Heselhaus von der Universität Tübingen schrieb in ihrem Gutachten für den Prozess:

»Mein heimliches Auge« bietet eine multiperspektivische Darstellung von Sexualität, die gleichzeitig ausnahmslos jedem Rezipienten einen immer neuen fremden Blick auferlegt, denn er kann auf keiner Seite mit einem Beitrag rechnen, der seine eigenen sexuellen Bedürfnisse bedient. Durch diese Fokussierung der Wahrnehmungsstrukturen selber rückt – aller deutlichen Bildlichkeit zum Trotz – die kulturelle zwischenmenschliche-demokratische, produktive (sozusagen der Blick von Foucault)-Bedeutung von Sexualität in den Vordergrund.«

Schnappschüsse aus Privatschatullen aufgeschlossener Bürger

Sicher kann man das, was dieses Jahrbuch ausmacht, auch so verkorkst wissenschaftlich sagen. Ich sage: Es ist ein bunter Mix aus Essays, Kurzgeschichten, Interviews und Gedichten, Fotografien, Grafiken und Kunstabbildungen. Dabei stehen Texte arrivierter Schriftsteller, wie die der Japanerin Yoko Tawada, die 1998 die Poetik-Dozentur in Tübingen innehatte, als auch die Texte von Autoren, die noch davon träumen, eines Tages vom Schreiben leben zu können, nebeneinander. Gleiches gilt für die Abbildungen. Neben Fotografen wie Anja Müller oder Thomas Karsten sind auch Schnappschüsse aus den Privatschatullen aufgeschlossener »Normalbürger« dabei. Diese Mischung macht die Besonderheit und Liebenswürdigkeit dieser Hefte aus.

Auch die Konkursbücher, eine in unregelmäßigen Zeitabständen erscheinende Sammlung von Essays, Geschichten, Fotos und Kunst zu bestimmten Themen (Angst, Scham, Alter, Haut, Haare, Blut, …), sind das Ergebnis einer vielfältigen Betrachtungsweise der beteiligten Autoren. Der Name spielt auf das von Hans Magnus Enzensberger von 1965-2008 als Hauszeitschrift des Suhrkamp Verlages herausgegebene Kursbuch an.

Kritisch ist anzumerken, dass die Autoren, die Beiträge und Fotos zu diesen beiden Reihen beisteuern, als einzigen »Lohn« 2 Belegexemplare erhalten, was auch die prekäre wirtschaftliche Lage des Verlags widerspiegelt.

Verlegerin Claudia Gehrke hierzu:

»Die große Vielfalt der Beiträge ist nur auf diese Weise möglich. Würde ich auch nur symbolische Honorare zahlen, wäre weniger als die Hälfte der Beiträge drin. Das heimliche Auge lebt aber aus der großen Vielfalt. Es sind in jeder Ausgabe so viele verschiedene Bild- und Textautoren, dass wir meist 300 bis 400 Belege verschicken müssen. Auch erhalten alle Autoren Kollegenrabatt von 40 Prozent, für Bücherliebhaber also schnell viel mehr als ein übliches Anthologiehonorar.«

Egal, ob alt oder jung, hetero, bi, lesbisch oder schwul

Daneben verlegt der Konkursbuch Verlag wunderschöne Bildbände, die jedoch – und das ist wiederum Zeichen des Anspruchs der Verlegerin, abseits vom Mainstream neue Wege zu beschreiten – nicht nur den makellosen Körper zeigen, sondern auch den alten Menschen aus der Ecke seiner Unsichtbarkeit hervorholen und seinen Körper, mit all den Runzeln und Falten ausleuchten, ohne ihn jedoch bloßzustellen. Das ist die Intention der Verlegerin: die Würde des Menschen stets zu achten, egal, ob alt oder jung, hetero, bi, lesbisch oder schwul und egal, welchen sexuellen Vorlieben er oder sie frönt.

Auch politischen Themen nimmt sich der Verlag an. So leistet zum Beispiel der Bildband »Reize – Zinat« von Müjde Karaca einen ganz eigenen Beitrag zum Thema »Kopftuchdebatte«. Die in Deutschland geborene Autorin hat hierin Frauen fotografiert, die jeweils bis auf die Augen verschleiert sind, im nächsten Foto nur ein Kopftuch tragen und auf dem dritten Foto »ohne« zu sehen sind. In den Texten erzählen die Porträtierten von ihren Erfahrungen und Ansichten zum Thema »Verschleierung«.

Zweiter Schwerpunkt Belletristik

Und dann gibt es das belletristische Programm, in dessen Titeln es ebenfalls häufig um Grenzüberschreitungen geht. Das Gender-Thema ist auch hier Schwerpunkt.

In der Reihe »Liebesleben« sind – aufgeteilt in hetero und lesbisch – kurze erotische Romane veröffentlicht.

Aber auch die Kanarischen Inseln und Japan sind ein besonderer Fokus. Claudia Gehrke darüber, wie diese Gegenden Eingang ins Verlagsprogramm gefunden haben:

»Japan durch die Autorin Yoko Tawada und Peter Pörtner, der in der Gründungszeit des Verlags dabei war und dann nach Japan ging, die Kanaren durch eigene Reisegelüste. Und weil sie vor allem als Touristenorte bekannt sind und nicht als Landschaft mit aufregender Literatur und Kunst.«

»Die Kanaren sind auch ein »Zwischen-Ort«, es gibt eine lange Geschichte der Emigration von den Inseln weg und zurück, und zu den Inseln hin, es gab immer Reisende, die dort blieben, auch schon in vergangenen Jahrhunderten. Mich interessiert das Dazwischen.«

CDs, Videos, DVDs und eBooks komplettieren das Programm.

Pro Jahr verlegt der Konkursbuch Verlag 12 bis 16 neue Titel, insgesamt dürften es mittlerweile über 500 sein. Mit wie vielen Mitarbeitern wird das bewerkstelligt?

Da ist Berndt Milde, der »Mann für alles«. Er steht Tag für Tag im kleinen, bis unter die Decke mit Regalen vollgestopften Verlagsraum im Sudhaus, der Lager, Versandstation und Galerie in einem ist, und verpackt Bücher, um sie an Kunden zu senden. Er schreibt Rechnungen, bereitet Messe- und Bücherstände auf Veranstaltungen vor, ist für die Technik, die Buchhaltung und die Betreuung der Verlagshomepage zuständig.

Vom Büro in Berlin aus leitet die zweite Mitarbeiterin, Babett Taenzer, die Pressearbeit und ist für die Veranstaltungsorganisation zuständig. Im Wohnhaus der Verlegerin werden die Bücher gestaltet und am PC layoutet, findet die Programm- und Herstellungsarbeit statt. Hier stapeln sich die Manuskripte, die durchgesehen werden sollten. Autoren warten nicht selten jahrelang auf eine Nachricht, oft auch gänzlich vergebens. Hier lagert das »Material«, aus dem Das heimliche Auge kreiert wird.

Ein Schwachpunkt ist die Verlags-Website, die Visitenkarte im Internet, die seit ewigen Zeiten im selben Kleid daherkommt. Jeder halbwegs ambitionierte Autor hat heutzutage eine ansprechendere Homepage.

Erotische Nächte quer durch die Republik

Um den Verlag in der Öffentlichkeit bekannter zu machen, veranstaltet Claudia Gehrke mit ihrem Team jedes Jahr im Dezember sowie zu den beiden Buchmessen die schon legendären »Love bites«, die erotischen Nächte. Und zwar quer durch die Republik und darüber hinaus. Ob Ahrenshoop oder Basel, die erotischen Mitarbeiter von Claudia Gehrke haben kein Problem damit, ganze Säle zu füllen. Neben Lesungen der Verlagsautoren gibt es Performances, frech-frivole Darbietungen, Tanz, Livemusik und auch reichlich Gelegenheit zum Ablachen.

Mit den in den letzten Jahren reichlich hervorgesprossenen Erotikverlagen, die den Mainstream-Geschmack oder spezielle Nischen bedienen, mit der Konzentration im Buchhandel, durch die Umwandlung in Weltbild-, Hugendubel- und Thalia-Filialen, ist es für den kleinen Verlag immer schwerer geworden, sich im Buchhandel sichtbar zu präsentieren. Langjährige Kunden im Buchhandel sind weggebrochen. Als löbliche Ausnahme nennt Claudia Gehrke die Osiandersche Buchhandlung.

Es ist zu wünschen, dass der kleine Verlag aus Tübingen auch in Zukunft sein grenzüberschreitendes Programm zur Freude der Leser auflekgen kann. Ein Programm über die schönste Sache der Welt und darüber hinaus, im interessanten Wechselspiel zwischen künstlerischem Anspruch und dem ganz privaten Blick durchs Schlüsselloch.

Cornelia Lotter

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2 Kommentare

  1. Der erotische Effekt von „Kraken auf nackten Brüsten“ erschließt sich mir auch nicht, der anderer Bilder von Krista Beinstein schon. Und der zitierten Meinung von Prof.Heselhaus, der Rezipient der „Mein heimliches Auge“-Jahrbücher könne „auf keiner Seite mit einem Beitrag rechnen, der seine eigenen sexuellen Bedürfnisse bedient“ kann ich mich ebenfalls anschließen, was dann wohl auch für den Beitrag gelten dürfte, den ich selber einmal vor Jahren geleistet habe.

    Das Problem dieses achtenswerten Verlages, dem der Baden-Württembergische Landespreis sehr zu gönnen ist, sehe ich neben der erwähnten Konzentration im Buchhandel darin, dass viele große Publikumsverlage heute spezielle Reihen haben, die sehr wohl darauf ausgerichtet sind, die eigenen sexuellen Bedürfnisse des Lesers explizit zu bedienen – ohne dass das heute vor Gericht qua Gutachten verteidigt werden muss.

    Dem frommen Wunsch im Epilog von Cornelia Lotter schließe ich mich jedenfalls an.
    Till Kurbjuweit

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