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Karg und gewaltig: Weißes Meer von Roy Jacobsen

Roy Jacobsen: Weißes Meer

Literatur aus Norwegen steht im Ruf, karg und melancholisch zu sein. Der Roman »Weißes Meer« von Roy Jacobsen bestätigt dieses Vorurteil auf wunderbare Weise und zählt zu den stärksten Büchern des Jahres 2016.

Wer beim Osburg Verlag wohl den Klappentext zum Roman »Weißes Meer« von Roy Jacobsen verfasst hat? Der Werbetext ist von Phrasen durchsetzt: »Hoch oben im Norden«, so lesen wir, »herrscht Krieg« und ein »heftiger Sturm«; wir lesen von »dramatischen Winterwochen« und »leisem Glück«.

Nach der Rückseitenlektüre erwartet man eine kitschige Liebesgeschichte zwischen einem russischen Soldaten und Ingrid, der einzig verbliebenen Bewohnerin einer kleinen norwegischen Insel. Der Soldat ist ein Kriegsgefangener, der nach dem Abschuss eines deutschen Schiffes an den felsigen Strand der Insel gespült wurde. Es ist das Jahr 1944.

Doch glücklicherweise sieht der Schutzumschlag gar nicht nach einer solchen Romanze aus. Er ist nüchtern gestaltet, ein dunkelblaues Meer in der Vertikalen, daneben ein grauer Himmel. Mit etwas Glück hat man den Klappentext nicht gelesen, schaut ins Buch hinein und beginnt zu lesen.

Roy Jacobsen: Weißes Meer

Roy Jacobsen, Jahrgang 1954, zählt in Norwegen zu den meistgelesenen Schriftstellern. In Deutschland erscheint sein Werk beim kleinen Osburg Verlag aus Hamburg. »Weißes Meer« knüpft an Roy Jacobsens Buch »Die Unsichtbaren« an, das ebenfalls auf der Insel Barrøy spielte. Für die Lektüre von »Weißes Meer« ist dies jedoch unerheblich. Das Buch steht für sich und ist kein Fortsetzungsroman im eigentlichen Sinne.

»Der Fisch kam zuerst. Der Mensch ist nur ein zählebiger Gast am Meer.« Mit diesen beiden Sätzen beginnt das Buch, und wir lernen Ingrid kennen. Weil sie weiß, wie man Kabeljau rasch ausnimmt und fachgerecht halbiert, bekommt sie Arbeit in einer Fischfabrik. Doch ein Unwetter kommt auf, der Fischfang bleibt aus und schon nach wenigen Tagen, an denen Ingrid 10 Stunden am Tag schuftet und den Fisch halbiert, ist keine Arbeit mehr da.

Ingrid verlässt das Festland und kehrt mit dem Ruderboot auf die Insel Barrøy zurück. Nicht nur der Krieg hat dafür gesorgt, dass die junge Frau dort die einzige Bewohnerin ist. Ihre Eltern sind tot, der Bruder hat die Insel längst verlassen, ihre Tante liegt mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus.

Am Strand entdeckt Ingrid die angeschwemmten Leichen deutscher Soldaten. Und dann ist plötzlich Alexander im Haus, und sie weiß nicht, ob er einer der deutschen Soldaten ist, der den Luftangriff auf ein deutsches Boot überlebt hat.

Es ist der erste Teil des Buches, der Ingrids Rückkehr auf die Insel beschreibt. Es gibt noch zwei weitere, zwischen denen jeweils ein Bruch und eine Veränderung steht. Jacobsen erzählt von Ingrid, aber es ist nicht das, was man eine Liebesgeschichte nennen kann.

Selten erzählt Jacobsen von Gefühlen und Gedanken. Vielmehr beschreibt er Handlungen und Gesichter. Dinge, die getan werden und die nicht getan werden. Die Einsprengsel wörtlicher Rede sind ebenfalls selten zu finden. Es geschehen ungeheuerliche und schlimme Dinge, doch die ruhige, unaufgeregte und im besten Sinne fast emotionslose Erzählweise Jacobsens bringt sie uns gerade deshalb unglaublich nahe. Es entstehen tiefe Personenzeichnungen, ohne dass sie uns von Jacobsen plump dargeboten werden. In einer beschriebenen Geste bringt er all das stärker unter, wofür andere Autoren viele Sätze benötigen.

Leserin oder Leser sind nah dran an Ingrid, aber stets wahrt Jacobsen eine sprachliche Distanz.

Es mag genauso eine Phrase sein, doch die karge und dennoch gewaltige Art des Erzählens passt zum beschriebenen Land, zur beschriebenen Zeit und macht »Weißes Meer« zu einem bewegenden Buch und zu großer Literatur. Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann haben das Norwegisch von Roy Jacobsen ins Deutsche übertragen.

Wolfgang Tischer

Roy Jacobsen; Gabriele Haefs (Übersetzung); Andreas Brunstermann (Übersetzung): Weißes Meer: Roman. Gebundene Ausgabe. 2016. Osburg Verlag. ISBN/EAN: 9783955101053

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