StartseiteAlmtraumFolge 1 vom 2. April 2007

Folge 1 vom 2. April 2007

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Schon im Aufwachen war ich schlecht gelaunt. Ich hatte sehr real geträumt, Pia und ich gingen über eine Wiese und sie verunsicherte mich mit ihrem ständigen Lachen und den wiederholten Bewegungen, mit denen sie die Haare gegen die Sommerbrise aus dem Gesicht schob, aber nicht auf ihren Rock achtete. Ich versuchte, ihre Hand zu nehmen, doch sie entzog sie mir und lief ein paar Schritte vor. Irgendwie bekam ich sie dann doch zu fassen, weil es mein Unterbewusstsein so wollte, und wir lagen im Gras, nur durch die dünnen Kleidungsstücke getrennt. Sie lachte mich aus. Begehrend küsste ich sie und alles tauchte in Farbe und Cinemascope.

Abgesehen von meiner trüben Stimmung war der Morgen wie jeder andere. Ich las mir die Arbeit des vergangenen Abends durch. Meine Laune besserte sich dadurch nicht. Der Text wirkte gekünstelt und steif, es fehlten Emotionen, die meinen Figuren Tiefenwirkung verleihen würden – ein sicheres Zeichen, dass ich mich auf falschem Terrain bewegte und meine Phantasie das Manko zwischen einer überzeugenden Darstellung und dem Nichterlebten nicht ausfüllen konnte.

Eine Weile döste ich vor mich hin und hörte nebenbei Musik. Ich wippte zu Don’t you love me anymore und wurde melancholisch. Ob ich es einmal mit einer Liebesgeschichte versuchen sollte? Was würde wohl dabei herauskommen, wenn sich Sehnsucht und Melancholie vereinigen? Bittersüße Träume vielleicht, solche wie heute Nacht. Ich verwarf den Gedanken – damit lagen wieder zwölf Stunden des Tages vor mir ohne Ahnung, wie ich sie sinnvoll füllen sollte.

Um die Mittagszeit sah ich nach der Post. Heute war wieder einer meiner Glückstage. Der hellbraune Umschlag war schon vom Treppenabsatz aus zu sehen. Für die Absagen von den Verlagen brauchte ich eigentlich keinen Briefkasten. Die zurückgeschickten Manuskripte passten nicht in den Blechschlitz wie die Stromrechnungen und Ansichtskarten aus für mich zu weit entfernt liegenden Urlaubsorten. Alles zu groß Geratene legte der Briefträger auf der ersten Treppenstufe ab.

Die Hoffnung, der Umschlag könnte nicht für mich sein, währte die verbleibenden neun Stufen.

Aus der Erdgeschosswohnung rechts tönte eine markante Stimme, dann heulte ein Mädchen los. Sonja hatte sich eine Watschen von ihrem Vater gefangen. Eigentlich sollte Kallweit um diese Zeit bei schönem Wetter im Fenster liegen und dort stundenlang das Leben auf der Straße beobachten, die Arme auf ein Sofakissen gestützt.

Ich hörte Kallweits Frau maulen.

»Dat Kind is dat doch gaanich in Schuld! Mänsch, wennze doch endlich wieda am Rohr stehn könns!«

Ich riss den Umschlag auf und zog den Briefbogen heraus. Mein erster Blick galt der Unterschrift. Heute schrieb mir eine Lektorin, Bettina Kracht, und nicht nur irgendeine Sekretärin.

»… müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir für Ihr Manuskript Die Unschuld des Herbert Koslowski keine Verwendung haben. Unser Programm ist nicht auf im Arbeitermilieu des Spätkapitalismus angesiedelte Themen ausgerichtet. Wir wünschen Ihnen …«

Was mir Bettina Kracht schrieb, klang nicht nach einer fadenscheinigen Begründung. Es musste Verzweiflung gewesen sein oder Abstumpfung, mich überhaupt an diese Buchfabrik zu wenden. Das Verlagshaus Weigold produzierte eine Unmenge Taschenbücher, die Goldene Reihe von Weigold, vorwiegend Übersetzungen aus dem Amerikanischen. Auf den kaschierten Hochglanzrückseiten prangten die Auszüge aus Buchbesprechungen wie Gütesiegel, teilweise nur Satzfetzen, Anpreisungen wie Marktgeschrei …

Der Stand war ungünstig platziert, zwischen Fisch rechts und Obst und Gemüse links. Der Verkäufer trug ein kurzärmeliges Hemd und eine Krawatte anstelle der blauen Leinenschürze der landwirtschaftlichen Konkurrenz um ihn herum. Vor ihm lag ein ungeordneter Haufen Taschenbücher wie ein ausgeleerter Sack Kartoffeln. »Meister der Spannung!« rief der Verkäufer und warf ein Taschenbuch achtlos in den Blechtopf auf der Waage. Der Topf mit dem Buch neigte sich nur wenig. Der Verkäufer stellte ein 1/2-Kilo-Gewicht auf die andere Seite und beobachtete die trägen Bewegungen der Zungen.

Der Gemüsehändler nebenan nutzte die Pause. »Spargel, eins-a, die letzte Gelegenheit. Zergeht auf dem Gaumen.«

Der Buchverkäufer zog ein weiteres Taschenbuch aus dem Haufen. Ohne den Titel zu lesen, verkündete er: »Königin des Thrillers!« Schwungvoll warf er die Königin zum Meister in den Topf.

Eine alte Frau blieb stehen. »Mr. Stringer«, sagte sie und hielt ihren Begleiter am Ärmel fest. Die alten Leutchen verursachten eine Störung im Fluss der vorüber eilenden Marktbesucher.

»Ja, Miss Marple?« antwortete der Angesprochene mit einer betonungslosen, für einen Mann zu hohen Stimmlage.

»Wir sollten Vorsorge treffen. Der nächste Mordfall kommt bestimmt«, sagte die alte Frau.

»Wie Sie meinen, Miss Marple«, antwortete Mr. Stringer. »Was wird nur Inspektor Craddock dazu sagen?«

Der Buchverkäufer enthob Miss Marple einer Antwort. »Inter-natio-nale Spitzen-klasse!« intonierte er lauthals. »Gehört zu den Besten seiner Art! Geistreich! Kultiviert! Von schockierender Spannung!« verkündete er seiner anwachsenden Kundschaft. Blind fand ein weiteres Buch seinen Weg zu den anderen in den Topf. »Nicht zweitunddreißig Euro, nicht zweiundzwanzig, keine zwölf, nein, anderthalb Kilo heute nur … sechs …«. Eine warme Brise wehte Fischgeruch über den Marktplatz, und der Verkäufer verschluckte den Centbetrag hinter seinem Handrücken.

»Wollen Sie Ihren Bücherschrank noch weiter vollstopfen?« nörgelte Mr. Stringer. »Die Welt wimmelt von Psychopathen unterschiedlicher Couleur, aber muss denn jeder seinen eigenen Roman bekommen?«

»Diesmal haben Sie Recht, Mr. Stringer. Was ist aus dem guten alten englischen Kriminalroman geworden, undurchsichtig verknotet, melodramatisch, lehrreich? Meine Agatha-Christie-Sammlung ist im übrigen bereits vollständig.«

»Darf ich Sie heute Abend zu Spargel mit gekochtem Schinken einladen?«

»Gern, Mr. Stringer. Die Bücher hier sind unverdaulich.« Miss Marple verzog den Mund zu einem bissigen Lächeln. »Auch wenn Sie Sauce hollandaise darüber gießen.«