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Louisiana Literaturfestival 2025: Begegnungen mit Charlotte Gneuß

Charlotte Gneuß und Marc-Christoph Wagner auf der Bühne
Charlotte Gneuß und Marc-Christoph Wagner auf der Bühne (Foto: Fellgiebel)

Das Louisiana Literaturfestival in Dänemarks schönstem Museum für moderne Kunst lockt jedes Jahr Literaturbegeisterte aus aller Welt an. Barbara Fellgiebel war erneut vor Ort und sprach mit Charlotte Gneuß über ihren gefeierten Roman »Gittersee« – ein Gespräch über DDR-Geschichte, Spurensuche und die Kunst des Erzählens.

Alle Jahre wieder – Louisiana

Alle Jahre wieder fahre ich zum Louisiana Literaturfestival in Europas schönstes Museum für moderne Kunst nach Humlebæk, nördlich von Kopenhagen, südlich von Helsingør. Ein Kulturorgasmus, auf den ich nicht verzichten möchte.

Die Autorin des Beitrags hinter einer beachtlich großen Sammlung von Giacometti
Die Autorin des Beitrags hinter einer beachtlich großen Sammlung von Giacometti

Aus verschiedenen Gründen kann ich in diesem Jahr leider nur an einem Tag teilnehmen, und zwar am Freitag, dem 22. August 2025, an dem Marc-Christoph Wagner Charlotte Gneuß interviewt. Charlotte ist die einzige deutschsprachige Autorin in diesem Jahr. Ich hatte sie bereits vor zwei Jahren auf der Frankfurter Buchmesse gehört und hatte in Erinnerung behalten, dass es hauptsächlich um ihre »Anmaßung« ging, als in Westdeutschland Geborene ein Buch über die DDR zu schreiben. Diesem Angriff war sie damals nicht gewachsen.

Umso mehr freue ich mich, dass dieses Buch so gut angekommen und in viele Sprachen übersetzt worden ist, darunter auch ins Dänische.

Erwartungsvolle Stimmung im Publikum

Die Stimmung ist wie immer erwartungsvoll, neugierig, zugewandt, aufgeschlossen. Vielen Anwesenden scheint es egal zu sein, wer da auftritt – sie lassen sich nur allzu gern überraschen von dem, was sie zu hören bekommen. Andere sind Experten und extra zu gerade diesem Auftritt, gerade diesem Autor oder jener Autorin gekommen.

Das Konzept ist genial und einzigartig: Fast jede Autorin, jeder Autor tritt zweimal auf, einmal als solche(r) im Solo-Interview, das zweite Mal im Gespräch mit einem anderen Autor, einer anderen Autorin, wobei sie oder er sich also im Vorfeld mit dem Werk des betreffenden Gesprächspartners befasst haben muss.

Die Vielschichtigkeit einer Person kommt auf diese Weise hervorragend zum Ausdruck.

Literaturchef Christian Lund erklärt das besondere Festivalkonzept vor beeindruckender Kulisse
Literaturchef Christian Lund erklärt das besondere Festivalkonzept vor beeindruckender Kulisse

Ich höre den Verantwortlichen des Festivals, Christian Lund, wie er einer Gruppe offensichtlicher Erstbesucher das Konzept erklärt und – zu meiner besonderen Freude – sagt, dass immer mehr Veranstaltungen mitgeschnitten werden und auf diese Weise im Louisiana Channel gestreamt werden können. Welch positive Entwicklung, denn über die inzwischen 14 Jahre, in denen dieses einzigartige Festival bereits stattfindet, sind viele einmalige Gespräche nicht für die Nachwelt erhalten geblieben.

Vier Bühnen für die Literatur

Erwartungsvolle Menschen
Erwartungsvolle Menschen

Es gibt vier Bühnen, zwei drinnen, zwei draußen. Die größte ist die Parkbühne mit großem, an drei Seiten offenem Zelt und Bestuhlung für mehrere hundert Personen. Dort wird Charlotte Gneuß von 12 bis 13 Uhr von Marc-Christoph Wagner interviewt, dem seit Anbeginn für deutschsprachige Autorinnen und Autoren zuständigen Moderator. Sein Dänisch ist, nach meinem Dafürhalten, hervorragend und mit meinen Schwedischkenntnissen gut zu verstehen. Ich bin gespannt auf dieses Gespräch und versuche, keine Erwartungen zu haben.

Um 11:40 Uhr wird die Sicherheitsabsperrung geöffnet. Hunderte von Menschen haben – teilweise seit 40 Minuten – dort geduldig Schlange gestanden. Mir ist bereits bei der Akkreditierung mitgeteilt worden, dass alle Menschen gleich behandelt werden und für Journalisten keine Extrawürste gebraten werden. Dennoch sind die ersten beiden Reihen links mit weißen »reserverad«-Zetteln beklebt. Sie sind für andere Autorinnen und Autoren reserviert, heißt es.

Dank der Tatsache, dass viele Menschen sich nicht direkt neben jemanden setzen, sondern einen Platz dazwischen lassen, finde ich in der ersten Reihe rechts, direkt mit Blick auf den Stuhl, auf dem Charlotte sitzen wird, einen freien Platz. Perfekt!

Ich habe sowohl sie im ungestörten Blick, als auch große Teile des Publikums und mache mir einen Spaß daraus, zu raten, wer Deutsch versteht und wer nicht.

Das Interview mit Charlotte Gneuß beginnt

Um 12:05 Uhr kommen Charlotte und Marc-Christoph auf die Bühne und blicken auf hunderte von erwartungsvollen Literaturenthusiasten – überwiegend Enthusiastinnen.

Und dann geht’s los. Marc-Christoph ist super vorbereitet, begrüßt das Publikum auf Dänisch und erklärt, dass er das Interview auf Deutsch führen wird, was allen Anwesenden aus dem kostenlosen Programm (in angenehmem Papierformat und nicht per App online!) bekannt ist, und es zwischendurch dänische Zusammenfassungen geben wird.

Und genau das tut er. Hervorragend. Ohne sich Notizen zu machen, ohne Wesentliches zu vergessen. Beeindruckend.

Charlotte hat sich in den zwei Jahren seit der Frankfurter Buchmesse zu einer souveränen, innere und äußere Ruhe ausstrahlenden Gesprächspartnerin entwickelt, die fast druckreif spricht. Kein »hm«, »äh«, »ich sag jetzt mal«, »gewissermaßen« … Es ist eine Freude, den beiden zuzuhören.

Marc-Christoph scheint ehrlich begeistert von Charlottes Erstroman »Gittersee« zu sein. Er stellt intelligente Fragen, die erst ganz am Schluss und ganz am Rand auf den deutschen »Anmaßungsskandal« zu sprechen kommen, und das tut dem gesamten Gespräch sehr gut. Er verfällt in kein Mansplaining, was vielen seiner Kollegen immer wieder passiert. Keine Altersüberheblichkeit – sie ist 1992 geboren, er nach eigenen Angaben 1970. Charlotte pariert die teilweise komplexen, mitunter philosophischen Fragen charmant und gekonnt.

Und dann kommen immer wieder die angekündigten Zusammenfassungen, die Marc-Christoph schwitzen lassen. Aber chapeau! Wie gesagt.

Zwischendurch liest Charlotte eine Textpassage, die von Mathilde Arcel nahtlos auf Dänisch gelesen wird. Beim zweiten Mal ist es umgekehrt; da hören wir erst den dänischen Text.

Persönliche Begegnung mit Charlotte Gneuß

Charlotte Gneuß und Barbara Fellgiebel
Charlotte Gneuß und Barbara Fellgiebel

Im Bücherzelt wird die dänische Ausgabe von »Gittersee« verkauft, und ich staune, wie viele Menschen enttäuscht sind und gern das Original erworben hätten. Ich frage Charlotte, ob sie mir zehn Minuten schenkt – das tut sie, und wir begeben uns ins Bootshaus, das außer- und unterhalb des Louisianagelände liegt und eigentlich nur für die eingeladenen Autorinnen und Autoren zugänglich ist. Keiner hält mich auf; wir gehen nach draußen in die Sonne und setzen uns auf eine Treppenstufe. Ähnlich habe ich vor drei Jahren Judith Hermann hier interviewt. Der Blick auf das glitzernde Wasser, die Sonne, die uns umgebenden Wildrosen und Sanddornbüsche sind die wohl schönstmögliche Umgebung für ein Interview, meint Charlotte.

Ich hätte sie gern geduzt, wie wir das in Skandinavien so selbstverständlich tun. Aber es ist ihr undenkbar, mich zu duzen; also bleiben wir beim deutschen Sie.

Vom Gefängnis zum Literaturbetrieb

Eigentlich ist Gittersee ihr zweiter Roman, denn ursprünglich wollte die 1992 in Ludwigsburg geborene Charlotte Gneuß Sozialarbeiterin werden und arbeitete als solche im Gefängnis. Ihre dortigen Erfahrungen verarbeitete sie in einem Roman, für den sie bisher keinen Verlag gefunden hat. Aber ihr Stil machte mehrere Verlage neugierig und beim Spaziergang mit ihrem späteren Lektor vom Fischer Verlag wurde Charlotte klar: Dies ist ihr Verlag. Die Anerkennung, die sie für Gittersee bekommen hat, manifestiert sich  in beeindruckenden Aufenthaltsstipendien und Auszeichnungen. Sie war Stadtschreiberin in Dresden, durfte im Haus der Roger-Willemsen-Stiftung residieren und erhielt zahlreiche Preise.

»Gittersee« handelt von der 16-jährigen Karin, deren Freund Paul sie Komma nennt. 1976 begeht Paul Republikflucht und die zurückgelassene Karin wird eine der vielen jugendlichen Stasi-Informanten.

Bei jeder Lesung wird sie gefragt, warum sie über eine Zeit und ein Land geschrieben habe, in der und in dem sie nicht gelebt habe.

Das hat sich so ergeben. Da war zuerst der erste Satz des Romans: »Wir waren sechzehn. Jungs nur zwei. Thorsten und David.«

Der gab den Ton an. Und die Sprache. Ihr gelingt eine ganz eigene Jugendsprache, die dem Roman ein rasantes Tempo verleiht.

Video: Wolfgang Tischer über »Gittersee« von Charlotte Gneuß

Warum die DDR-Zeit?

Und die Zeit? Warum gerade 1976? Dieses Jahr war der Kipppunkt, wie eine Kommastelle in der Geschichte der DDR. Wolf Biermann wurde ausgebürgert, das System begann zu bröckeln. Das lenkte sie auf Spurensuche. Suche nach dem Land ihrer Eltern das es nicht mehr gab. Die in Dresden lebende Großmutter legte ihr viele Formulierungen in den Mund; die nach Westdeutschland übersiedelten Eltern erzogen die Tochter zwar in Westdeutschland, waren aber selbst in der DDR sozialisiert. Viele Ferien wurden in der ehemaligen Heimat verbracht und Charlotte fühlte sich nirgends wirklich dazugehörig.

Jenseits des Bildungsbürgertums

Charlotte hat »Gittersee« clever durchdacht. Ihr war wichtig, ein Dresden zu schildern, in dem es nicht nur das Bildungsbürgerviertel gibt in dem der Turm spielt (2008 von Uwe Tellkamp geschrieben und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, inzwischen auch verfilmt) sondern eben Gittersee, eine Arbeitersiedlung in der heimlich Uran für die Sowjetunion abgebaut wurde, die Menschen unter Decknamen arbeiteten – ähnlich wie bei der Stasi.

Verfilmt wurde Gittersee bisher noch nicht, aber die Bühnenversion wurde bereits erfolgreich in Berlin aufgeführt.

Blick in die Zukunft

Nun wartet die Literaturwelt ungeduldig auf Charlottes nächsten Roman, doch darüber spricht sie nicht. Sie erzählt hingegen fasziniert von ihren Recherchen in historischen Archiven über 1925 und entdeckt erstaunlich viele Parallelen zu 2025. Aber das sei nur für einen Zeitungsartikel.

Sie sagt noch eine Reihe interessanter Sätze wie: »In Deutschland verliert man gerade die Schattierungen. Alles ist schwarz oder weiß.«

»Literatur ist ein empathischer, ein kollektiver Erfahrungsraum« und Charlotte meint, unsere Demokratie sei gefährdet, wenn Menschen sich eine Diktatur zurückwünschen.

Und schon ist sie weg zum nächsten Gespräch.

Louisiana verzaubert immer wieder

Mir tut es sehr leid, nicht noch länger bleiben zu können, zum Beispiel um der wunderbaren Elif Shafak lauschen zu können, die mich letztes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse so fasziniert hat, oder bei der Performance von Laurie Anderson teilnehmen zu können. Und, und, und …

Egal, wen man sich anhört – Louisiana-Autorengespräche sind immer besonders und bereichernd.

Barbara Fellgiebel

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2 Kommentare

  1. Liebe Barbara, das ist ja klasse, dass durch die Übersetzung ins Dänische die Debatte nochmal aufgerollt wird und Charlotte Gneuß zeigen konnte, wie sie daran gewachsen ist. Danke für das Interview und ich bin ja gespannt, was sie als nächstes vorlegt. Wir sehen uns in Frankfurt?

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