BUCHSTABENSUPPE Suppentasse
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Erleuchtung durch Notdurft
von Christian Scheinhardt

Astrid ist die älteste meiner Nichten. In ein paar Wochen wird sie achtzehn Jahre alt, und dieses in Kürze bevorstehende Ereignis macht mir wieder einmal deutlich, mit was für einem rasanten Tempo die Zeit vergeht. Das Mädchen ist heute plattbarfuß wenigstens zehn Zentimeter größer als ich, was bei meiner für einen Mann eher geringen Körperhöhe nun so schwer auch wieder nicht ist. Im Normalfall trägt sie aber wenn wir uns begegnen Schuhe mit dicken Sohlen und Absätzen, die den Abstand zwischen uns noch einmal schätzungsweise verdoppeln, sodass die junge Dame dann hemmungslos auf ihren Onkel herabschaut. Damit habe ich kein Problem, weißgott nicht, ist es doch Ausdruck dafür, dass die folgenden Generationen sich nicht nur nach vorn, sondern auch nach oben entwickeln.
Problematisch finde ich dagegen, dass ich seit geschlagenen zwei Stunden hier vor dem weißen Bildschirm hocke, auf dem in dieser ganzen Zeit nichts weiter erscheint als ein blinkender Cursor. Gern würde ich mich ja am Zusammenbrauen von W. Tischers Buchstabensuppe beteiligen, doch ich glotze nur blöd auf die Tastatur und finde einfach nicht die rechten Zutaten. Wenn schon keine Suppe, sage ich mir, dann vielleicht wenigstens ein kleiner Wortsalat- Aber es hilft nichts, Ladehemmung, keine Verbindung, engine's off!

Ich denke an die Zeit zurück, in der das mit dem Größenverhältnis zwischen Astrid und mir noch mehr als umgekehrt war, und ich ihr nur auf den Knien liegend richtig in die Augen sehen konnte, oder wenn ich sie auf den Arm nahm. Sie war ein ganz süßes Kind, mollig und wohlgenährt, mit dicken roten Pausbäckchen und großen runden, staunenden Kinderaugen. Kakelnd stolperte sie durch meine Bude, eigentlich mehr auf dem Boden krabbelnd und rutschend, denn den Dreh mit dem Laufen auf ihren zwei kurzen Beinchen hatte sie noch nicht so recht raus. Trug sie damals eigentlich immer noch die Windeln, mit denen sie wirkte wie ein kleines Entlein mit einem viel zu dicken Hintern? Ich weiß es nicht mehr so genau, wie lange tragen Kinder so was denn eigentlich? Egal.
     Astrid brabbelte und johlte vergnügt, entdeckte pausenlos auf jedem Quadratzentimeter des Fußbodens und der Liege neue und interessante Sachen und kämpfte jeden Augenblick um meine ungeteilte und ihr zugewandte Aufmerksamkeit. Typisches weibliches Geltungsbedürfnis im Anfangsstadium. In meinem eigenen Interesse war es aber auch besser, ein Auge auf sie zu haben, denn wenn sie sich einige Zeit unbeobachtet fühlte, stellte sie, schon aus Rache für ihre verletzte kleine Eitelkeit, sicherlich wieder etwas völlig Verrücktes an. Bei kleinen Kindern ist ja meist etwas im Busche, wenn sie verdächtig ruhig sind, aber wenn man es noch rechtzeitig merkt, ist es ja gut.
     Ich war damals viel mit mir selber beschäftigt, wie das eben so ist, wenn man in den tiefen Krisen der Pubertät steckt, sich entweder wie wenigstens zwei Persönlichkeiten vorkommt oder wesentlich weniger. Der erste einigermaßen so zu nennende Bart fing an zu sprießen, wie männlich, und dazu noch mehr dicke Pickel, wie eklig. Seit einiger Zeit setzte ich es durch, mir die Haare lang wachsen zu lassen, und demonstrierte auch sonst wo ich nur konnte, dass ich für nichts und gegen alles bin, meistens sogar gegen mich selber oder die, von denen ich meinte, dass sie da in irgendeiner Form in mir steckten. Du bist wie Mephisto, sagte damals ein Freund zu mir, und manchmal glaube ich, ein wenig ist es bis heute so geblieben. Die Mädchen, die Frauen, kurz, die Weiblichkeit an sich, begann ungemein interessant zu werden, oder besser, noch interessanter als sowieso schon. Sie erschloss sich mir als faszinierendes Mysterium, dessen Geheimnisse zu lüften ich mich nur zu gern, wenn auch mit einigem Herzklopfen, anschickte. Stück für Stück offenbarte es sich mir mehr und großartiger, ohne dass ich jemals völlig dahinter kam. Und manchmal glaube ich, ein wenig ist es bis heute so geblieben…
     Aufgeregt schnatterte es neben mir und zerrte eindringlich am Ärmel. Ich erwachte aus meiner pubertären Nabelschau und sehe hinunter, sehe große Kulleraugen, Pausbäckchen und eine kleine Stirn, zu der die krausen Falten, in die sie gelegt ist, so gar nicht passen. Und ich rieche auch mit einem Mal, diesen unverwechselbaren Geruch, der nur Astrids Höschen entspringen kann, und während ich aufspringe, ist mein größtes Problem nicht, wie ich ihrer Mutter das beibringen soll, sondern wie ich die ganze Sache bereinige. Irgendwie wird mir schlecht von dem Gestank.

Während ich mich im Geiste den Korridor von vor gut sechzehn Jahren hinunterhasten sehe, Astrid an den Armen gepackt weit vor mir hertragend, auf dem Weg zur Badewanne, um sie sauber zu machen, fällt mir auch wieder ein, dass sie keine Windel mehr um hatte. Aber das machte es nur noch schlimmer.
     Aber auch etwas anderes fällt mir ein. Zwar weiß ich es bis heute nicht genau, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass mich Astrid nicht nur einmal versucht hat, auf das bevorstehende Ereignis aufmerksam zu machen. Nur dass ich es eben nicht gemerkt und gehört habe. Das macht aber nichts, sage ich mir heute, denn ich habe wohl doch noch eine kleine Geschichte für die Buchstabensuppe gefunden. Ganz sicher hat die Kleine nämlich mehrmals, bevor sie sich schließlich vor Verzweiflung in die Hosen machte, gesagt:
     »A a!«

© 1998 by Christian Scheinhardt. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

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