Berlin, Podewil, 27. Februar 1999:

Das digitale Experiment
Johannes Näumann über die Präsentation »Hypertext Berlin«

Thomas WegmannIn einem Marathon von sechs Präsentationen wurden unter dem Motto »HypertextBerlin« von Autoren und Webdesignern sehr unterschiedliche, dafür aber sehr spannende Arbeiten vorgestellt. Dabei handelte es sich, wie Thomas Wegmann in seiner Einführung betonte, keineswegs um einen Wettbewerb, sondern um ein Experiment, das erfahrene Printautoren mit Netzkünstlern zusammenführen sollte. Die Ergebnisse dieser nicht immer spannungsfreien Zusammenarbeit waren sehr interessante Projekte, die vor allem eines bewiesen: Die Verbindung von Literatur und Internet folgt keinem geraden Mainstream, sondern ist immer ein völlig individueller Ausdruck der beteiligten Künstlerinnen und Künstler.
Claudius Hagemeister     So baut der junge Berliner Autor Claudius Hagemeister bewusst die Stimme als weitere Dimension in seine Collage ein und gibt dem Leser die völlige Freiheit, den Text so zu rezipieren, wie er es für sich angemessen hält. Diese Wahlmöglichkeit wird noch dadurch verstärkt, dass dabei auch die Schrift ausgeblendet werden kann, also nur die vortragende Stimme zu hören ist. Bewusst ist dieser »Elektrotext« (Hagemeister), der eine Sammlung intuitiv miteinander verlinkter sehr pointierter Alltagsszenen beinhaltet, schlicht gehalten und verzichtet in der Darstellung völlig auf Farben.
Peter Glaser     Vergleichbar ist dieser Minimalismus nur mit Peter Glasers »
Licht, Berlin«, der in seinem Design in die Frühzeiten des Internet zurückkehrt und damit die sprachliche Wirkung seiner Texte, sowie der Zitate von Walter Benjamin und Peter Handke nur unterstreicht. Aufwendiger, dafür aber nicht weniger eindringlich gelingt dies Claudia Klingers Umsetzung von Michael Rutschkys »Berlinroman«, wobei hier die Fotos, die wie ein Schachbrett abgewandert werden können, mit Textfragmenten kombiniert sind. Online sind sie bislang leider nur lesbar, auf der Softmoderne bot sich für das Publikum der Genuss dazu die beeindruckende Lesestimme des Autors zu hören.
Kathrin Röggla und Sylvia Egger     Wesentlich aufwendiger im Design war der Beitrag von Kathrin Röggla. »
Nach Mitte« bedeutet eine komplizierte Suche nach einem Ziel, das nie erreicht wird. Leider waren die Texte und die Struktur durch den improvisierten Charakter der multimedialen Improvisation nicht immer ganz verständlich. Auch das Duo Norman Ohler und Nina Brudermann ergänzten ihren Beitrag »246H« noch durch einen hinzugezogenen Cassettenrekorder und diverser Show-Einlagen durch den Autor. Ein gefakter Handy-Anruf aus »Capetown« sollte vermutlich seine Weltläufigkeit unterstreichen, wobei Possen dieser Art leider den Blick auf die äußerst gelungenen Fotos Berliner U-Bahnhöfe verstellten.
Rainer Merkel, Jörg Paulus, David Wagner, Wolfgang Tischer     Dass die Zusammenarbeit zwischen Autoren und Webdesignern eine spannende Symbiose darstellen kann, bewies das Trio Rainer Merkel, Jörg Paulus und David Wagner mit ihrem Beitrag »Das Zeitalter der Konversationseuphorie«, der von Wolfgang Tischer umgesetzt worden ist. Das ambitionierte Projekt, nämlich die Verlinkung mehrerer Telefonverzeichnisse, befindet sich noch im Aufbau und hat Recht unterschiedliche Texte entstehen lassen. Geschmackliche Unterschiede zwischen dem Webdesigner und den Autoren konnten nebeneinander bestehen bleiben, dem Leser selbst bleibt die Entscheidung überlassen, ob er lieber eine »klassische« oder »euphorische« Version lesen möchte.
Hilmar Schmundt, Michael Rutschky, Claudia Klinger     So individuell verschieden alle diese Beiträge waren, hatten sie doch eines gemeinsam: Es wurde sehr bewusst und sparsam sowohl mit literarischer als auch mit digitaler Technik umgegangen. Weder wurde auf Biegen und Brechen die Linearität der Texte zertrümmert - was den Print-Autoren sowieso fremd sein dürfte - noch kam es zu einer Leistungsschau à la Computer-Fachmesse. Nicht allen schien dies gefallen zu haben: Wofür man dafür noch das Medium des Internet brauche, wurden einige Autoren gefragt. Natürlich ist der Einwand berechtigt, allerdings haben die heutigen Projekte gezeigt, dass gerade die einfache Darstellung am Computer eine ganz eigene Ästhetik entwickelt. Schließlich ist nicht immer der nahe liegende Weg auch der beste: Sonst hätte Gutenberg die Bibel auch mit der Hand abschreiben können.

Johannes Näumann
27.02.1999


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