Die leise Wehmut des Abschiednehmens 5. September: Als ich aufwache, dringt schon die Sonne durch die Spalten der Fensterläden, lässt Funken auf der weiß gestrichenen Wand tanzen. Dieser Morgen erscheint mir besonders schön. Hier. Zu Hause. Ich weiß, dass es so ist, weil ich fortgehe. Es ist die leise Wehmut des Abschiednehmens. Ein südamerikanisches Lied kommt mir in Erinnerung: Ich weiß, wie viel Trauer ich trage, doch selbst so lebt man… Es ist die Einsamkeit, die jeder in sich trägt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Doch dann ist da ganz urplötzlich – von einer Sekunde auf die nächste – dieses noch nie erlebte Gefühl des Erstaunens, der Ungläubigkeit, des Entsetzens. Und dann ist sie da. Ganz bewusst und nie mehr zu leugnen. Die Klarheit, mit der sie mir gegenwärtig geworden war, hatte mir fast den Atem genommen. Noch nie hatte ich etwas schmerzhafter und intensiver gefühlt, als diese ganz persönliche und doch allen innewohnende Einsamkeit. Man kann ihr nicht entfliehen, aber das Reisen macht sie erträglich … 7. September: Endlich in Porto. Es ist drei Uhr in der Nacht und doch bin ich trotz der langen Reise nicht müde genug, um gleich einzuschlafen. Zu wach sind noch die Bilder des vergangenen Tages. Frankreich. Ein dunkler Busbahnhof irgendwo am Rande von Paris. Wir sehen nichts vom nächtlichen Glanz der Stadt. Später das sanfthügelige Limousin in der langsam zurückweichenden Dämmerung. Hier und da eine Hand voll niedriger, rot gedeckter Häuschen. Zu wenige, als dass sie die Bezeichnung Dorf für sich beanspruchen könnten, umgeben von Weinbergen. Als das kühle Morgenlicht sich endlich durchgesetzt hat, ist die Landschaft längst wieder in eine fast hügellose Ebene übergegangen. Hinter Bayonne – kurz vor der spanischen Grenze – gewinnt die Sonne spürbar an Kraft. Doch meine Hoffnung, dass hier nun der sonnige Süden beginnt, wird enttäuscht. Aus tiefschwarzen Wolken stürzende Wassermassen begleiten unsere Fahrt durch Spanien. Auch jetzt rinnen Regentropfen an den Fensterscheiben hinunter. Ihr sachtes Murmeln lässt die wandernden Gedanken zur Ruhe kommen. Nach einigen Stunden erholsamen Schlafes verlasse ich mit leisem Bedauern meine Unterkunft, aber für die kommende Nacht will ich eine weniger kostspielige Bleibe suchen. 8. September: Ich fahre mit dem Zug durch das Douro-Tal. Tief unter mir zunächst das nilgrüne Wasser des Rio Tâmega, bevor ich bei Marco de Canavezes wieder auf den Douro treffe, der sich hier mit Schleifen und Windungen seinen Weg bahnt. Vorbei an einer Hüttensiedlung gleich neben den Bahnschienen. Frauen waschen in einem Tümpel, den der Douro entstehen ließ, auf Steinen ihre Wäsche und legen sie zum Trocknen auf warme Felsbrocken. Nackte Armut. Nicht geschönt durch den morbiden Charme des Bairro-da-Sé in Porto. In Tua erfahre ich, dass der Anschlusszug nur noch bis Mirandela fährt, nicht mehr bis Bragança. Wieder wurde ein Stück Bahnlinie ausgelöscht, weil es für die Betreiber unrentabel geworden ist. 9. September: Früh am nächsten Morgen geht es weiter. Über Straßen, abseits des direkten Weges, die oft nicht einmal geschottert sind. Mitten durch die Berge. Rot die Erde, gelbbraun die abgemähten Wiesen. Oliven und Obstbäume setzen grüne Akzente in die hügelige Einsamkeit. Dort, wo die Straße asphaltiert ist, nutzt unser Busfahrer das genussvoll aus und gibt Gas. Hunde flüchten von der Straße, als wir in halsbrecherischer Fahrt durch die Schlaglöcher donnern. Er verlangsamt sie erst, wenn wir wieder ein Dorf erreichen, in dem uns Ochsenkarren und Eselfuhrwerke an der Weiterfahrt hindern und der Bus sich durch eng beieinander stehende Häuser zwängen muss. Hier, wo alte Frauen am Dorfbrunnen ihre Wäsche waschen und die Männer mit Ochsengespannen die Felder pflügen, scheint mir das hektische Porto viel weiter entfernt, als es der Blick in die Landkarte glauben machen will. 11. September: Ein sonniger, recht kühler Morgen, an dem ich mich auf den Weg nach Chaves mache. Unterwegs wieder die nun schon gewohnten Gelb-Braun-Töne der abgemähten Felder und Wiesen, die rote Erde. Doch vorherrschend ist das Grün der dicht bewaldeten Hügelketten, zwischen denen tief hängende, ätherisch durchsichtige Wolkenfetzen langsam dahingleiten. Der Bus ist voll gestopft mit Einheimischen, die als Gepäck Plastiktüten und fest verschnürte Kartons mitbringen. Irgendwann wird das Tal breiter. Es gibt wieder Oliven und Weinreben. Wir begegnen Frauen, die Gefäße voller Trauben auf ihren Köpfen tragen. 12. September: Es ist kalt, die Berge wolkenverhangen. Wir fahren durch Nebelfelder. Entlang des Weges armselige Behausungen. In Erinnerung bleiben wird vor allem die unübersehbare Armut vieler Menschen. Als wir am Morgen Chaves verließen, musste der Bus vorsichtig einem Pferdefuhrwerk ausweichen. Eine verrostete Karre, voll beladen mit verschnürten Bastkörben, dazwischen eine Frau, deren Kleidung man Lumpen zu nennen versucht war. Ihre Füße steckten in völlig ausgeleierten Socken, darüber ausgetretene, offene Schuhe. Auch mein erster Eindruck von Amaranthe ist nicht unbedingt positiv. Doch nur ein paar Schritte in die Altstadt hinein und ich bin verzaubert: Die alte Brücke aus Granitstein, die über den Rio Tâmega führt und auf der anderen Seite die Klosterkirche São Gonçalo mit ihrem traumhaft schönen Innenhof. Die Nachmittagssonne verklärt den Blick. Ich kann mich kaum losreißen. Ein von bemoosten Granitquadern getragener Kreuzgang, Überreste alter Azulejos, in der Mitte ein steinerner Brunnen. Zauber der Vergangenheit, dem noch immer etwas Lebendiges anhaftet. 13. September: Eine Gänseschar, die eine in den Fluss ragende Landzunge bewohnt, weckt mich mit ihrem Gezeter. Es ist sonnig, aber noch kalt. Gegen Mittag mache ich mich auf den Weg nach Gimarães. Ich glaubte, ein kleines Städtchen vorzufinden – und mich erwartet eine sich weit ausbreitende Stadt. Als ich die zentrale Busstation verlasse, stehe ich in einem Außenbezirk mit unpersönlichen Wohnblocks. Meine Nase sagt mir, dass sich in unmittelbarer Nähe eine übel riechende Kloake befinden muss. In diesem Augenblick interessiert mich am meisten der Busfahrplan, den ich mir gerade besorgt habe. 16. September: Viana do Castelo. Ich bin wieder am Meer. Am Ende der Hafenmole, an die sonnenwarmen Mauern eines Leuchtturms gelehnt, genieße ich die Gerüche, das Geschrei der Möwen. Hier, in Hafennähe, habe ich auch ein Zimmer. Hoch oben mit Blick über rote Ziegeldächer und auf den Atlantik. Gerade einmal zwei Wochen bin ich unterwegs, doch mein Zeitgefühl hat schon vor Tagen begonnen zu verschwimmen. Rast die Zeit oder steht sie still? Mich umhüllt Zeitlosigkeit wie der Nebel, der sich heute Morgen über die Stadt gelegt hat. Nur der tägliche Blick in mein Notizbuch erinnert mich daran, dass es Tage … Wochen … Monate gibt. 24. September: Den Weg von Aveiro nach Praia da Mira bin ich zu Fuß gelaufen, weil die kleine Straße entlang der ‘Ria’ – wie die Lagune hier genannt wird – von keiner Buslinie mehr befahren wird, da es eine schnellere Verbindung gibt. Es war ein ziemlich langer Weg. Kleine Dörfer zum Greifen nah und doch durch die mich von ihnen trennende Ria weit entfernt. Greifbar war nur die Einsamkeit, wenn lange kein Auto vorüberfuhr. Ich kann mich nicht entschließen weiterzureisen. Praia da Mira ist ein wunderbarer Ort zum Ausruhen: Das Meer. Der Strand. Die vielen Holzhäuschen mit ihrem blaugelb oder grünweiß gestreiften Anstrich lassen ein äußerst reges Treiben in den Sommermonaten vermuten. Jetzt hat nur noch eines geöffnet. Hier kann man windgeschützt auf der Terrasse sitzen, lesen, schreiben oder auch gar nichts tun. So wie die kleine Eidechse, die zu meinen Füßen ein Sonnenbad nimmt. 26. September: Ob Coimbra eine bleibende Erinnerung sein wird? Ich weiß es nicht. Sicher die Begegnung mit Susan aus Taiwan, die eigentlich Tsai-Hwa heißt, was aber hier niemand richtig aussprechen kann. Mit ihr teilte ich ein Zimmer in der Jugendherberge und sie brachte mir mit den Erzählungen aus ihrem Land eine fremde Kultur ein Stückchen näher. Aber die Stadt selbst? Sie ist schön und voller Leben. Da ist die Universität, eine der ältesten Hochschulen Europas, ihre wirklich sehenswerte Bibliothek mit Büchern und Schriften, die auf das Mittelalter datiert sind. Doch genauso mittelalterlich erscheint mir die heutige Stadt. Ein vernehmlicher Hauch von Standesbewusstsein weht durch ihre Gassen. Studenten, die im ganz normalen Universitätsalltag ihre althergebrachten, schwarzen Schulterumhänge tragen, tun das ihre, um diesen Eindruck zu vermitteln. 30. September: Seit zwei Tagen bin ich in Lissabon. Wer Lissabon nicht gesehen hat, hat nichts Schönes gesehen, so sagt es ein portugiesisches Sprichwort. Und das zu Recht! Denn diese Stadt ist wirklich schön. Überschäumend von sprudelnder Lebendigkeit. Eine wunderbare Leichtigkeit gepaart mit einer Prise leiser Schwermut prägt das Wesen dieser Stadt. Tagsüber ist sie ein brodelndes, lautes Chaos. Früh am Morgen erstickt der Nebel fast alle Geräusche. Er scheint mit den Rauchschwaden, die an jeder Straßenecke zu fast jeder Stunde des Tages von den Öfen der Kastanienverkäufer aufsteigen, wetteifern zu wollen. 5. Oktober: Ein schöner Tag, den ich heute – am Tag der Republik, dem Nationalfeiertag Portugals – in Évora, der weißen Hauptstadt des Alentejo, verbringe. Ich gehe spazieren. Ich habe Zeit. Der Bus geht erst morgen Mittag. Mein Weg führt fort von der belebten Praça da Giraldo. Hin und wieder rast ein Auto mit lautem Hupen und halsbrecherischer Fahrt heran. Dann hilft nur noch die Flucht in einen Hauseingang. Das Weiß der Häuser blendet die Augen im Licht der Sonne und das Herz der Kathedrale lässt das meine höher schlagen. Ich finde einen Kreuzgang wie er mir gefällt. Auf dem Rand einer Zisterne im Schatten eines Mandarinenbaumes lasse ich mich für eine erholsame Pause nieder. Es wimmelt von kleinen, grünen Eidechsen, die so zutraulich sind, dass ich sie daran hindern muss, in die Ärmel meiner abgelegten Jacke zu schlüpfen. Wenn man genau hinschaut, sieht man sie auch an den Mauern der Kreuzgangpfeiler auf- und abflitzen. Manchmal, wenn gerade keine lärmenden Besucher da sind, wird es nahezu paradiesisch still. In einem schattigen Winkel blühen mattblaue Hortensien, unterstreichen die hinfällige Schönheit dieses Ortes. 7. Oktober: Ich bin in Lagos. Mein erster Tag im Algarve. Und wie zeigt sich der Himmel? Wolkenverhangen! Meine Laune bewegt sich Richtung Gefrierpunkt. Schließlich miete ich einen Wagen und fahre nach Sagres. Ich laufe eine Runde um das Kap, bewundere den Mut der Fischer, die in den senkrecht abfallenden Klippen in gewagten Positionen stehen, um ihre Angeln auszuwerfen – und plötzlich reißt die Wolkendecke auf. Die Sonne zaubert mit ihrem gleißenden Licht eine Aussicht entlang der westlichen Steilküste, die mich auf der Stelle mit dem Rest der Welt versöhnt. Ich fahre nach Carrapateira. Ganz meinen Vorstellungen entsprechend, ein winziges Fischerdorf, wo ich für die nächsten Wochen bleiben möchte, wenn ich ein Zimmer finde. Für den Augenblick habe ich das Backpacking herzlich satt und sehne mich danach, einmal alle Sachen auspacken und ohne Ballast unterwegs sein zu können. 8. Oktober: Ich hatte Glück, und seit heute wohne ich nun also in Carrapateira. Ein Ausflug die Westküste hoch Richtung Norden nach Odeceixe hat mir gezeigt, dass ich mit meinem Fischerdorf eine gute Wahl getroffen habe. Hier reiht sich, wie sonst nirgendwo, eine malerische Bucht an die nächste. Man kann hoch über den Klippen viele Kilometer die Küste entlang fahren und dabei immer neue, zum Verweilen einladende Plätze in windgeschützten Dünen finden, während es unten am Strand zuweilen recht stürmisch zugeht. 13. Oktober: Ich sitze auf meinem Balkon – bei Kerzenlicht. Es ist annähernd windstill. Augenblicke zuvor hat die Sonne sich mit einem furiosen Feuerwerk verabschiedet. Und wie es einer bühnenreifen Leistung gebührt und mein stummer Beifall es forderte, gab es mehrere Vorhänge. Wolkenschichten, die sich mit klarem Himmel abwechselten, erweckten die Illusion mehrerer Sonnenuntergänge in kurzen Intervallen. Mal mit ineinander verschwimmenden Tönen der Rot-Palette, mal mit scharf gezeichneten, gleißenden Wolkenkonturen. Ich bedaure, die Dichtkunst nicht zu beherrschen. Wie gerne würde ich diese Bilder in klangvolle Verse verwandeln können. 19. Oktober: Wir waren weit hinausgefahren, begleitet von kleinen Delphinen, die ihre übermütigen Spiele spielten. Als die Küste trotz der klaren Sicht kaum noch wahrnehmbar war, hatte der Skipper das Boot dem sanften Wiegen der Wellen überlassen. Irgendwann war dann die Zeit abgelaufen. Wie bei einer Juke-Box, in die man Münzen eingeworfen hat. Langsam, noch immer den wogenden Rhythmus des Meeres in mir fühlend, laufe ich die Hafenmole hinunter. Die Mittagssonne verbrennt die Luft. Als ich die Türe meines Wagens öffne, flutet mir die Hitze entgegen. Bis der Wind für Abkühlung gesorgt hat, will ich auf den warmen Steinen am Rande des Hafenbeckens noch ein wenig der neuen Melodie lauschen. Doch eine tiefe, warme Stimme, die unerwartet neben mir erklingt, hindert mich daran, in Tagträume zu gleiten. Wir sehen uns an, reden, was man redet, wenn man weiß, dass der Augenblick alles entscheidend und niemals wiederholbar ist. Als ich gehe, fühle ich einen Blick, der wie die Sonne auf meinem Rücken glüht. In mir flirrt und vibriert es wie schon seit langem nicht mehr. Ich weiß, dass Schmetterlinge nicht unsterblich sind. Aber noch ist Sommer in Portugal. Der Herbst wird auf sich warten lassen, und ich reise nicht alleine weiter. 4. November: In der vergangenen Woche haben wir ein letztes Mal uns lieb gewordene Plätze aufgesucht. Salema, Sagres, São Vicente. Auch zu den Grotten von Algar Seco in Carvoeiro fahren wir noch einmal. Das Meer ist wild bewegt. Viel höher als beim letzten Mal sprüht die Gischt. Wir spüren ihre prickelnde Kraft auf unserer Haut. Morgen reisen wir ab. 11. November: Die Westküste hinauf – mit einem Abstecher in ein noch sommerwarmes Lissabon – führte uns der Weg dann bei spätherbstlich ungemütlichem Wetter durch das spanische Hochland und schließlich durch ein nicht weniger regenreiches Frankreich. Und nun bin ich also wieder zu Hause. Aber meine Seele wird nicht aufhören unruhig zu sein. Sie wird wieder davonsegeln, so wie in den Zeilen auf einem Fetzen Papier, den mir in Porto in einem kleinen Café unten am Douro jemand mit der Bitte um ein wenig Aufbesserung seines Lebensunterhaltes in die Hand drückte: Für den, der davonsegelt… |