| | | Die Leute in den eng besetzten Kirchenbänken drehten sich nach ihm um: Das Konzert sollte gleich beginnen, man glaubte, unter sich zu sein, und jetzt das: Ein erschöpfter Mann hatte die Kirche betreten. Die Lederjacke hing schlaff und speckig an ihm herunter. Hinter dem dichten Bart sein blasses Gesicht. Den Eindringling ignorierend, begann der Diakon unbeeindruckt die Ansprache, in der er darum bat, jetzt, da Weihnachten sei, an die Ausgegrenzten der Gesellschaft zu denken. Schließlich seien Maria, Joseph und das Jesuskind zu ihrer Zeit ebenfalls Außenseiter gewesen. Die Gemeinde nickte beifällig und ließ kurz darauf ein zustimmendes Raunen hören, als der Diakon ein Grußwort des Pastors, der sich im wohlverdienten Urlaub befinde, verlas. Unterdessen fand der Bärtige Platz auf einer der hinteren Bänke, am Rand. »Spießerpack!« - Er brüllte gegen das bedächtige Orgelpräludium an, zog die Weinflasche aus seinem Mantel und goss den gelbweißen Fusel geräuschvoll schnaubend in sich hinein. »Ohne Respekt gegenüber dem Ort, dem feierlichen Rahmen, den anderen Menschen - mein Gott!«, dachte sein unfreiwilliger Nachbar, der ihn verstohlen aus den Augenwinkel beobachtete. Als rede er mit sich selbst, zuckte und gestikulierte der verspätete Konzertbesucher mit Raum greifenden Bewegungen. Sein Nachbar rückte zusehends weg von ihm und vermied es nun, ihn anzublicken. Der feierliche Rahmen: Schon strebte die Musik ihrem Höhepunkt zu. Die Streicher stritten mit den Bläsern, die Pauken setzten vermehrt mächtige Akzente. Doch plötzlich, auf ein Zeichen des Dirigenten hin, verstummten alle gleichzeitig, um wenig später gemeinsam wieder aufzuleben. Die festliche Musik verfehlte ihre Wirkung auf die Menschen nicht: Man hörte aufmerksam zu, entspannte sich bei weihnachtlichen Klängen; versöhnt richtete sich auch der Nachbar des Bärtigen behaglich auf der Bank ein, als hätte er seinen Nebenmann vergessen. So plätscherte das Konzert dahin. Und Schluck für Schluck verschwand mehr und mehr Fusel im Mund des ungleichen Gastes. Gegen Ende schien auch er aufgewühlt von den wuchtigen Akkorden, der mitreißenden Kadenz des ersten Trompeters, denn er lauschte andächtig, fachmännisch. Mal wiegte er den Oberkörper im Takt hin und her, mal folgte er reglos und konzentriert den Darbietungen der Musiker. Doch mit dem letzten Tropfen, kurz vor Schluss, verlor er die Contenance. In den aufbrausenden Beifall der Menge hinein warf er die leere Flasche, deren Scheppern niemandem entging. Ein Schock für die musikverwöhnten Ohren der Besucher. Empörung machte sich Luft, zunächst in Schmährufen, Schreien, allgemeinem Aufruhr. Der Übeltäter erhob sich schwerfällig, er musste Schläge einstecken. Auf seiner Stirn begann eine Schramme zu bluten, sonst war ihm im Tumult nichts passiert. Es blieb nun bei verbalen Attacken, bis es aus allen Bänken wie mit einer Stimme gerufen erscholl: »Hinaus, hinaus!« Doch der Fremde blieb stehen, als warte er auf jemanden. Man holte den Küster herbei, um den Störenfried endlich entfernen zu können. Der Küster beeilte sich, den Bärtigen aus der Kirche zu drängen. Der Fremde ließ sich den Rausschmiss gefallen, bis er, auf Höhe der Messingschale für die Spenden, plötzlich noch einmal die Stimme erhob: »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Herr Volkerts.« Der Küster erstarrte vor Schreck, als der andere den Bart abnahm. Einer Antwort nicht fähig, ließ Volkerts los. »Hier, nehmen Sie, für die Gemeindearbeit.« Ohne hinzuschauen nahm der Küster den Hundertmarkschein entgegen und flüsterte: »Danke, Herr Pastor.« Lautlos schlich die Gemeinde vorbei. Am Spendentopf hörte man heute nur diskretes Rascheln, den letzten Schein warf der Diakon. |