Die Wahrheit
von Susanne Sakel

Er rannte durch den Regen zum Wagen, riss die Fahrertür auf und fiel benommen auf den Sitz. Maria sah seine fahle Miene wie eine groteske Fratze in der Dunkelheit, hörte sein atemloses Schnaufen und erstarrte.
     »Mein Gott, was ist denn passiert?«
     Günthers Finger zitterten noch immer, er atmete tief durch und vergrub sein Gesicht in den Händen wie ein weinendes Kind. Dann ließ er langsam die Arme sinken und blickte mit leeren Augen in das Dunkel der Nacht.
     »Eine junge Frau öffnete mir die Tür«, begann er mit bebender Stimme, »sie hatte lange schwarze Haare, die ihr in die Augen fielen und irgendwie erinnerte sie mich an eine Zigeunerin. ›Kommen Sie doch herein‹, lächelte sie mich freundlich an, ›wir haben schon auf Sie gewartet‹. Ich erklärte ihr, dass wir nur zufällig wegen der Autopanne hier gelandet waren und ich dringend ihr Telefon benutzen müsste.« Er machte eine Pause und Maria drückte seine Hand, bis ihre Finger ganz weiß wurden.
     »Sie lachte mich einfach nur an und führte mich in ein altmodisch eingerichtetes Esszimmer«, nahm er unbeirrt den Faden wieder auf. »Dort saß eine andere junge Frau, sie war sehr blass und hatte ein feines, zerbrechliches Gesicht. ›Das ist meine Schwester‹, wurde ich aufgeklärt, ›sie ist blind, seitdem sie als Kind einen Unfall hatte. Als sie an einem Waldweg spielte, wurde sie von einem Auto angefahren und lag lange Zeit im Krankenhaus. Der Fahrer war betrunken und es stellte sich heraus, dass er noch nicht einmal etwas bemerkt hatte. Eigentlich ist es ein Wunder, dass sie noch lebt. Um nichts in der Welt würde ich in ein Auto steigen.‹ Ich dachte, dass es doch ziemlich paradox ist, unbedingt von diesem Haus aus nach einer Werkstatt telefonieren zu müssen und wollte das ganze schnell hinter mich bringen. Aber als ob die Schwestern meine Gedanken erraten hätten, boten sie mir freundlich lächelnd einen Platz an und baten mich, doch mit ihnen zu Abend zu essen.«
     Maria sah in der Dunkelheit des Wagens sein bleiches Gesicht und beobachtete, wie kleine Schweißperlen an seinen Schläfen herabliefen.
     »Natürlich sagte ich nein, weil du ja im Wagen auf mich wartetest, und ganz enttäuscht fragten sie mich, ob ich denn wenigstens auf die Schnelle ein Glas Wein mit ihnen trinken würde. Irgendwie taten mir die beiden leid, wie sie so alleine in dem großen Haus an dem Tisch saßen und ich dachte, na ja, warum eigentlich nicht und setzte mich zu ihnen. ›Wir haben einen ganz außergewöhnlichen Tropfen für besondere Gelegenheiten‹ erzählte mir die Blinde, während ihre Schwester den Wein aus dem Keller hervorholte. Sie stellte eine verstaubte Flasche auf den Tisch und ich las das Etikett: SATIREV stand darauf und ich fragte, ob das wohl ein ungarischer oder bulgarischer Rotwein wäre aber ich erhielt keine Antwort.«
     Seine Stimme wurde leiser und er sah Maria eindringlich in die Augen. »Es passierte etwas Seltsames«, erklärte er. Der Wein schmeckte ganz ausgezeichnet, sehr schwer und süß und nachdem ich ein paar Schlucke getrunken hatte, füllten mir die Frauen das Glas wieder auf, allen Protesten zum Trotz. Und plötzlich erfüllte mich so ein eigenartiges Gefühl, alles wurde so angenehm und leicht - nein, unterbrich mich jetzt nicht - ich fühlte mich wie in einem Rausch, obwohl ich noch nicht einmal ein halbes Glas geleert hatte. Die Umgebung schien sich zu verändern, alle Farben schienen mir auf einmal bunter und auch die Schwestern sahen plötzlich viel jünger und gelöster aus. Es kostete mich enorme Kraft, nicht noch mehr zu trinken, sondern endlich auf einem Telefon zu bestehen, damit ich Hilfe holen konnte. ›Aber gerne, sie finden den Apparat im Flur, gleich neben dem großen Spiegel‹ sagte die eine Schwester und benommen stand ich auf und ging zur Garderobe. Ich hatte den Hörer schon abgenommen, als mein Blick beiläufig den Spiegel streifte. Und da…«
     Seine Stimme überschlug sich und er schloss wieder die Augen und schöpfte tief Luft.
     »Ganz ruhig«, besänftigte Maria ihn, obwohl sie ebenso aufgewühlt war. »Ich sah mich im Spiegel«, setzte er stockend an, »und ich war völlig zerfleischt! Von meinem blutigen Gesicht hingen Hautlappen herunter und aus meinem Kopf quollen fleischige Eingeweide wie Würmer heraus. Meine Kleidung war zerrissen und an meinem Hals starrte mich eine offene Wunde an, durch die ein Rinnsal pulsierendes Blut an mir herablief.«
     Die Erinnerung ließ ihn erschauern und er betrachtete langsam seine Hände.
     »Aber als ich an mir heruntersah, war alles in Ordnung, ich war nicht verletzt. Völlig entsetzt stolperte ich in das Esszimmer zurück und die eine Schwester fragte lächelnd ›Was haben Sie denn? Haben Sie ein Gespenst gesehen?‹ Und die Blinde erwiderte ›ja, ja, im Wein liegt die Wahrheit, nicht wahr?‹ Das Zimmer fing an, sich zu drehen, und mit letzter Kraft torkelte ich dem Ausgang zu, und plötzlich stand diese Weinflasche vor mir und ich sah das Etikett und las VERITAS«.
     Eine Pause entstand und man hörte beide vor Anstrengung schnaufen. »Ich verstehe das nicht«, sagte Maria nach einer Weile. »Warum sollte die Wahrheit so aussehen?«
     »Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie mir ein Rauschmittel in den Wein getan und alles beruht nur auf einer Halluzination.« Unbewusst drehte er den Schlüssel im Zündschloss und der Motor sprang an. Fassungslos sah er zu seiner Frau.
     »Wieso geht er auf einmal wieder?«
     »Ich weiß es nicht. Los, fahr doch schon, schnell weg von hier!« Mit quietschenden Reifen fuhr Günther durch das bergige Gelände. Je weiter sie von dem Haus wegfuhren, desto irrealer erschien ihnen das Ereignis. Als sie schließlich nahe des Stadtwaldes die Lichter des Ortes sahen, wandte er sich zu seiner Frau.
     »Also, diese Geschichte werde ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen. Wie kann… oh, mein Gott!«
     Er starrte Maria an, deren Armknochen durch das offene Fleisch hindurchschimmerten. Ihr Kleid war ein einziger blutdurchtränkter Fetzen, ihr Gesicht entstellt und deformiert, in ihrem Kopf klaffte ein tennisballgroßes dunkles Loch.
     »Was ist denn los, Günther? Vorsicht, schau nach vorne! Verdammt, der Wald! Schau doch nach vorne, um Gottes Willen!«
     Aber es war zu spät. Die Wahrheit hatte sie eingeholt.

© 1997 by Susanne Sakel. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.


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