Oblonsek - von Johannes Thomae»Scheiße!« Oblonsek sagte es voller Inbrunst. Dabei hätte er viel lieber etwas anderes gesagt. Etwas was überlegen und nach die-Sache-im-Griff-haben klang. »Ridikül« wäre gut gewesen, oder ein leichthin geseufztes »Tja, das ist ein weites Feld«. Aber er hatte keine Wahl. Erstens war die Situation nicht danach und zweitens… Ach Scheiße! Eben erst hatte er als Romanfigur das Licht der Welt erblickt, und schon saß er mittendrin. Oblonsek griff frustriert nach der Tüte und goss sich ein Glas Bananenmilch ein. Damit würde es auch Schluss sein, wahrscheinlich schon morgen. Bestimmt würde er morgen Abend schon an irgendeinem schmierigen Tresen irgendeines schmierigen Kiosks lehnen müssen und sich einen Jägermeister und eine Flasche Bier kaufen. Und ganz bestimmt würde er auch rauchen. HB wahrscheinlich. Oblonsek machte sich da keine Illusionen. Wenn er diese armselige Existenz wenigstens nur vorspielen müsste! Vorspielen? Mensch, das war doch überhaupt die Idee. Er könnte doch in Wahrheit etwas ganz anderes sein! Privatdetektiv zum Beispiel! Bei dem Job kommt es doch oft vor, dass man sich in zwielichtiger Umgebung rumtreiben muss. In dieser Rolle wäre das Milieu aus Kiosk, Jägermeister und HB leichter zu ertragen, da gehörte es irgendwie dazu. Doch, ein Privatdetektiv, das war’s. Natürlich einer, der irgendeinem ganz großen Fall auf der Spur war. Ein honoriger Stadtpolitiker, allseits geschätzt wegen seines Eintretens für Recht und Ordnung, könnte hier am Kiosk für seine schöne aber drogensüchtige Freundin den Stoff… Genau, das war’s! Und er, er würde dann - nach etlichen Verwicklungen natürlich - dieses Schwein outen und ihr, dem armen Ding, einen Therapieplatz… und sie würde ihn dann… und dann würde er sie… und binnen Jahresfrist hieße er dann Oblonsek-Schiffer…
     Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Jedes Mal wenn ihm sein Name wieder einfiel, brachen alle Illusionen wie ein Kartenhaus zusammen. »Wie ein Kartenhaus!« wiederholte Oblonsek grimmig, »Und bestimmt kommt jetzt gleich die Enttäuschung, die über mir zusammenschlägt wie eine Woge.« Oblonsek zog eine Grimasse. Er wusste genau: wenn er nicht aufpasste, würde ihn dieser Schreiberling in Zukunft stets in solchen Schablonen reden lassen. Was konnte er von einem, der seine Hauptfigur Oblonsek nannte, schon viel erwarten?
     Andererseits - Oblonsek fing an sich zu trösten - andererseits: So schön die Story eben geklungen hatte, im Grunde war sie die Lösung noch nicht gewesen. Wenn man ehrlich war, war das doch eher eine Geschichte für einen Groschenroman. Und Held von einem Groschenroman - das war nichts für ihn. Er brauchte da eher was Intellektuelles. Oder wenn schon Groschenroman, dann nicht so glatt, so soft, so sahnig. Er brauchte für sich eine Story mit Kanten. Genau. Intellektuell - aber mit Kanten. Außerdem - Oblonsek grinste schief - passten Koks und Pumps wohl doch nicht so recht zu Jägermeister und Sandalen. Aber wie wär’s denn, wenn ein zwielichter Unternehmer - auch er ansonsten honoriges Stadtratsmitglied (damit die Sache Pep kriegt), wenn also der Unternehmer Giftmüll zu entsorgen hätte, und der würde sich dann hier unter dem Kioskpublikum seine Fahrer und Ladearbeiter besorgen und er, Oblonsek, könnte hier stehen, unrasiert und undercover, um sich anwerben zu lassen? Daheim hätte er natürlich ein Penthouse. Oder nee, Penthouse war blöd. Das war schon wieder zu sehr Herbert Reinecker. Besser wäre schon er hätte eine schöne große Sechs-Zimmer-Wohnung, Jugendstil, innen spärlichst aber äußerst edel möbliert, im großen Wohnzimmer nur eine Couch und die Anlage von Bang & Olufsen. Und an der Wand nur ein einziges Bild. Groß. Im Stil der Neuen Wilden. Unten rechts, ganz klein, die Signatur: Oblonsek.
     Oblonsek! Oh Mann! Oblonsek! Wie konnte dieser Idiot von Schreiberling ihm nur so einen Namen verpassen! Dieser Name war doch geradezu Programm! Der miefte doch geradezu von Spießigkeit, der roch nach abgestandenem Rauch, griff sich an wie eine alte Aktentasche und schmeckte nach Butterstulle und Kaffee aus der Thermoskanne. Mit diesem Namen war er in seiner Entwicklung doch völlig festgelegt. Da konnte er doch eigentlich nur in einer Geschichte aus den frühen Sechzigern vorkommen. Sowas mit Sozialkritik. »Der kleine Mann und die Wirtschaftswundergesellschaft« Böll lässt grüßen. Möglich, dass das der Autor nicht begriff, aber er, Oblonsek, hatte es begriffen. Oder hatte es der Autor etwa auch begriffen? War es das, worauf diese komische Gestalt abzielte? Ein Nachkriegsepos? Frei nach Kempowski? Oblonsek war eben dabei, in Panik auszubrechen als ihm einfiel, dass das wohl nicht gut sein konnte. Dann hätte ihn der Autor ja auch gleich in eine Fünfzigerjahre Küche setzen müssen und nicht über Nacht in seiner eigenen lassen. Doch was dann? Warum dieser schrecklich tütelige Name mit dem man ihn belegt hatte? Hatte der Autor etwa die Schnapsidee, er könnte einen Anti-Helden schaffen? So einen Schimanski-Verschnitt? Oder hatte er gar an ein Helge-Schneider- Imitat gedacht? Doof, chaotisch, reichlich daneben und gänzlich erfolglos? Oblonsek wurde ganz schlecht von der Vorstellung. Und er würde auch kaum mit dem Autor über sich reden können. Oblonsek gab sich da keinerlei Hoffnungen hin. Wie der sich schon selbstzufrieden zu Chips, Schokolade und Fernseher zurückgezogen hatte, als ihm Oblonsek eingefallen war. Ziemlich wahrscheinlich, dass das einer von den Hobbyautoren war, einer von jenen, die sich einbilden, schreiben zu können, und was herauskommt ist dann entweder Courths-Mahler-Lyrik oder Romane mit Handlung und Figuren so straff und so bündig wie eine Wasserleiche.
     Keine Frage hier musste was passieren. Oblonsek konnte nicht einfach abwarten, bis sich dieser Mensch am nächsten Morgen an seinen Schreibtisch setzen würde und ihn in irgendeine Geschichte zwängen, in der nicht hineinwollte. Er musste vorher wissen, was Sache war. Irgendwo musste der doch Unterlagen haben. Es musste doch einen Handlungsplot geben, eine Idee, irgendwelche Skizzen. Man konnte doch nicht einfach so eine Gestalt in die Welt setzen, ohne Sinn, Ziel und Zweck, und dann darauf bauen, dass einem am nächsten Morgen schon was einfallen würde. Oder konnte man doch? Schließlich ließ ihn dieser Typ ja auch alleine hier herumsitzen, kaum dass er ihn erfunden hatte und das sprach nicht gerade für einen besonders weit entwickelten Plan. Allmählich bekam Oblonsek wirklich Panik. Wie sollte er gegen einen, der für ihn überhaupt kein Konzept hatte, seinen Charakter bewahren? Da gab’s doch überhaupt kein Halten mehr! Wenn dieser Aushilfs-Schriftsteller heute Nacht schlecht träumen würde, fände sich Oblonsek morgen in einer Psycho-Story mit Katzenjammer wieder, in einer hoffnungslosen Beziehungskiste vielleicht und bei seinem Namen war klar, wer darin der Loser wäre. Oder war Oblonsek etwa ein Name für einen erfolgreichen Herzensbrecher? Eben.
     »Na ja«, Oblonsek versuchte sich abzuregen, kann ja sein, dass er vielleicht was anderes träumt, und plötzlich musste er grinsen. Wer weiß, vielleicht bin ich morgen schon ein Pornostar. Im Clinch mit Dolly Buster oder sonst irgendso einer Porno-Queen. »Porno-Queen?« Oblonseks Grinsen trocknete abrupt ein. »Pornostar? Idiot! schalt er sich selbst, Träumer! Bei seinem Namen war doch klar dass ihn dieser Schnarcher allenfalls zum Liveakt-Darsteller in einem abgeschmierten Nepp-Schuppen machen könnte. Wenn er ihm überhaupt diese Standfestigkeit zugestand. Vielleicht würde Oblonsek ja tatsächlich in die Fünfzigerjahre zurückmüssen, um ein Auskommen zu finden. Da würde er dann nachts um die Bahnhofsviertel herumschleichen, ab und zu würde er verstohlen einen ansprechen: Fotos? und dabei einen Moment lang seine Aktentasche öffnen. Wie lange würde er dieses Geschäft wohl machen können, bis er an eine Zivilstreife geraten würde und sie ihn wieder mal eingebuchtet hätten? Oblonsek fluchte. Von wegen Einbuchten. Das hätte viel zu viel Größe. Seine Karriere würde schlichtweg deshalb enden, weil ihm zum dritten Mal hintereinander in der Aktentasche die Thermoskanne aufgegangen wäre, und die Fotos durchweicht hätte. Es war echt zum Kotzen.
     Was Oblonsek dabei am meisten aufregte, war nicht so sehr das Missgeschick mit der Thermoskanne an sich, als vielmehr der Umstand, dass ihm diese Szene ganz von selbst eingefallen war. Offenbar hatte dieser Name schon von seinem Denken Besitz ergriffen. Seit kaum drei Stunden war er erfunden und schon wurden ihm Kleppermantel, Aktentasche und Butterstulle und Thermoskanne ganz selbstverständlich. Oblonsek sprang auf. Jetzt musste etwas passieren. Wenn er jetzt nichts unternahm, würde er morgen nicht nur Oblonsek heißen, sondern tatsächlich Oblonsek sein. Oblonsek ging ins Arbeitszimmer, tastete sich zum Schreibtisch, machte Licht. Irgendwo musste in diesem Chaos doch irgendetwas sein, was auf sein weiteres Schicksal hinwies.
     Tatsächlich! Eine Karteikarte mit - ja, doch, es war sein Name. Oblonsek merkte auf einmal, dass er kurzsichtig war. Fast automatisch tastete er an seine linke Hemdtasche, fand eine Brille und setzte sie wie selbstverständlich auf. Hornbrille, Kassengestell, stellte er so nebenbei noch fest, verschob eine nähere Betrachtung aber auf später. Zuerst musste er wissen, was auf der Karte stand. Er las. Fünf Zeilen genügten, damit er sich setzen musste: »Oblonsek, 1,70 groß, 45 Jahre, Brille, Stirnglatze«, stand da, »ist Junggeselle, Untermieter, trägt Trevirahosen, drunter Feinripp, Zuhause einen alten Trainingsanzug…«
     Ihm wurde ganz anders. Nervös tastete Oblonsek seine Hosentaschen ab, fand eine halbzerknüllte Schachtel HB, zündete sich abwesend eine an. Es musste was passieren. Auf der Stelle musste etwas passieren - Sofort und auf der Stelle - halt, was war das? Hatte sich drüben nicht etwas gerührt? Wenn der Schreiberling jetzt aufstand, weil er nicht schlafen konnte, wenn er das Licht am Schreibtisch sah, und auf die Idee kam, jetzt gleich mit Schreiben anzufangen? Das durfte nicht sein. Oblonsek griff sich die Schreibtischlampe. Ein Bauhausimitat, von Eduscho natürlich, aber schön schwer. Da kam er. Oblonsek schlug zu. Einmal, zweimal. Gut getroffen. Oblonsek stürzte, schlug mit dem Kopf dicht neben dem des Schreibers auf. Das Letzte was er in sein fassungsloses Erstaunen hinein hörte war dessen geröcheltes Verwundern : »Aber ich habe mir dich doch nur vorgestellt…«

 

© 1997 by Johannes Thomae. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.


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