SIE und der Tod - Zeichnung von Oliver Kern

Oliver Kern
SIE und der Tod

Da ist SIE! Ausgespuckt vom dreckigen, schwarzen Schlund der U-Bahn, kommt SIE mir entgegen. Stets um diese Zeit. Immer makellos! Ihre Haut hat die Farbe von Cappuccino und ist so rein, als würden ihr der toxische Regen und das synthetische Essen nicht das Geringste ausmachen. Jedes Mal, wenn SIE diese Treppe hoch läuft, fühle ich mich an die Bewegungen einer Katze erinnert. In ihre grünen Augen lauert die Wachsamkeit eines Raubtiers. Alles an ihr erregt mich, bringt mich aus dem Gleichgewicht. Ich gehe so nah an ihr vorbei, dass ich ihren Duft inhalieren kann. SIE würdigt mich nie eines Blickes – Schwarze mögen keine Weißen in dieser Stadt.
     Ihr Bild hängt noch an meiner Netzhaut, als ich die Schranke in die untere Ebene passiere und in den Zug Richtung Flughafen steige. Das Abteil ist voll, beklemmend und es stinkt nach den Ausdünstungen der Menschen um mich herum. Doch auch der schlimmste Gestank, kann ihren Geruch nicht aus meinem Hirn vertreiben. Ich weiß, dass ich mich besser auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren sollte, statt an SIE zu denken. Aber jeder Gedanke an SIE ist eine Flucht aus dieser Enge um mich herum.
     Der Mann hinter mir, drückt mir etwas in den Rücken, das aussieht wie eine Golftasche. Er könnte eine Leiche darin transportieren. Eine Kinderleiche! Ich habe oftmals solche Gedanken. Das mag an meiner Arbeit liegen. Meine Arbeit ist der Tod!
     Am Flughafen wartet mein Klient auf den 18-Uhr-Flug nach Prag. Er ist nicht schwer zu entdecken. Der Mann trägt einen grauen Mantel von dem gelber Regen perlt und auf die Granitplatten der Abflughalle tropfte. Die Beschreibung, die ich habe, ist wie immer präzise. In seinem Aktenkoffer hat er Drogen und in seinen Gesichtszügen Gelassenheit. Seine Unauffälligkeit macht ihn für mich sichtbar. Nachdem er sein Ticket gelöst hat, geht er in einen der Waschräume auf der Abflugebene. Die Tür wippt noch, als ich hinter ihm eintrete. An den Urinalen stehen ein nordafrikanischer Geschäftsmann im hellbraunen Anzug und ein Pole der auf seinen Anschlussflug nach Warschau wartet. Mein Klient gesellt sich dazu und ich beobachtete ihn im Spiegel über den Waschbecken. Als der Libyer zu schütteln beginnt sammle ich meinen Geist, schieße nach drei Sekunden aus meinem Körper, quer durch die Herrentoilette und fahre in den Nacken des Drogenkuriers. Sein Pulsschlag ist laut und unruhiger, als sein kühles Äußeres es erwarten lässt. Ich sitze in seinem Herzen, zusammen gekrümmt und klein wie ein Atom und spüre wie warmes Blut mich umspült. Dann stehe ich auf und fange an zu wachsen, strecke mich, bis der Herzmuskel platzt wie eine Fruchtblase und aufhört zu schlagen. Ehe der Mann tot zu Boden sackt, sehe ich mich wieder im Spiegel der Waschecke und noch bevor der Pole besorgt niederkniet, um als erstes die Brieftasche meines Opfers in seine Jacke verschwinden zu lassen, bin ich schon aus der Tür und gehe durch die Halle Richtung U-Bahnstation. Ihr Bild flackert wieder vor meinen Augen.

Gestern habe ich bei einem Hehler in der Altstadt eine Mindbox gekauft. Wenn ich sie aktiviere, zeichnet sie meine Gedanken auf. Ein waghalsiges Unterfangen, wenn man bedenkt, welche Jobs ich erledige aber ich muss mich jemanden mitteilen, sonst werde ich verrückt. Das neue Jahrtausend ist noch keine 50 Jahre alt, doch die Menschheit hat ihre Ideale verloren, genau wie diese Stadt ihren Glanz. Hätte mein Vater geahnt, was aus dieser Stadt wird, er hätte nicht gewollt, dass ich hier aufwachse. Aber er ging zu früh, um es zu verhindern und letztendlich ist diese Stadt genau so gut wie jede andere. Sie züchtet Psychopathen! Die Vereinigten Staaten werden seit drei Jahren von dem weltgrößten Fastfood-Konzern United Burgers regiert, die Europäische Union hat nicht funktioniert, alles östlich des Urals ist atomar verseucht und Süddeutschland, Österreich und Tschechien sind zum Zentraleuropäischen Reich fusioniert. Meine Stadt wurde zum Mittelpunkt Europas und gleichzeitig zur Müllhalde der Welt. Dort wo alle Fäden zusammenlaufen, baut die Unterwelt ihre größten Nester.
     Als Ibrahimovic’ Männer in der Sushibar auftauchen, schalte ich die Mindbox ab und lümmele mich gelangweilt auf den Tresen. Kalter Fisch auf Reis fährt mundgerecht portioniert an meiner Nase vorbei. Nuernberger und Bischoph sehen sich kurz um und kommen dann zielstrebig auf mich zu. Beide tragen dunkle Sonnenbrillen mit integrierten Displays, die sie mit allen wichtigen Informationen aus ihrer direkten Umgebung versorgt. Sie setzen sich links und recht neben mich auf die Barhocker. Alle drei starren wir in den Spiegel über dem Tresen.
     »Ich liebe diesen Ort! Hier ist alles noch wie vor 50 Jahren«, eröffne ich.
     »Was weißt du davon, wie es damals in einer Sushibar ausgesehen hat?«, grunzt Nuernberger und Bischoph lächelt dümmlich.
     »Ich schaue gern alte Kinofilme.«
     »Ibrahimovic möchte dich sehen«, unterbricht mich Nuernberger und macht mir damit deutlich, dass er nicht über alte Zeiten sprechen will. Durch die schwarzen Gläser seine Brille versuche ich seine Augen zu erkennen. Sie sind so leer wie der Verstand seines Partners. »Vamos«, sage ich schließlich und lege einen Geldschein auf die polierte Theke.

Ibrahimovic’ Anwesen ist ein Bunker. Mehrere Sicherheitszonen und Scann-Bereiche sind zu passieren, um ins Innere zu gelangen. Der Hausherr erwartet mich in einem abgedunkelten Zimmer. Er sitzt in einem breiten Designersessel und hört laut Strawinsky, als ich eintrete. Auf eine Handbewegung hin, verstummt die Musik. »Ah Nico, mein Junge! Schön dich zu sehen!«
     Er schält sich schwerfällig aus dem Stuhl. Seine Fettleibigkeit kann der Maßanzug nicht kaschieren. Obwohl der Raum gut gekühlt ist schwitzt er und es ekelt mich seine nasse Hand zu nehmen. Er trägt implantiertes Kunsthaar, sein Lächeln ziert ein brillantweißes Keramikgebiss und in seiner Brust schlägt ein synthetisches Herz. Dem Gestank seines Schweißes nach, hat er Prostataprobleme. Nach russischer Sitte nimmt er mich in den Arm und küsst mich auf die Wangen. Ich spüre einen Würgreiz in der Kehle aber es gelingt mir, ihn zu unterdrücken. Wir nehmen Platz. Meine Augen gewöhnen sich langsam an das Halbdunkel. Trotzdem verschwimmt Ibrahimovic’ teigiges Gesicht zu einer Maske, als er sich zurücklehnt. »Weißt du, dass ich einen höllischen Respekt vor dir habe, mein Junge! Dass ich mir jedes Mal beinahe in die Hose scheiße, wenn ich höre, wie du deinen Job machst. Niemand kann mir erklären, was da passiert aber keiner tötet wie du.«
     »Was liegt an?«, will ich wissen, weil mir sein Gesülze die Zeit raubt. Ich lasse Ibrahimovic meine Ungeduld noch deutlicher spüren, indem ich einen Blick auf die Uhr werfe. In einer halben Stunde wird SIE an ihrem Stammplatz im Café sitzen und einen Milchkaffee mit Karamellgeschmack bestellen. Die Sehnsucht nach ihrem Anblick ist stärker als meine Furcht vor dem Russen. SIE gibt mir das Gefühl von ein bisschen Unsterblichkeit.
     »Außer dir wagt es niemand, so mit mir zu reden, Nico«, höre ich ihn flüstern. In seinem Tonfall liegt etwas Bedrohliches. Er atmet schwer.
     »Komm zum Geschäft«, fordere ich ihn auf. In der Regel tötet er diejenigen, die ihm Befehle erteilen wollen. Bei mir wird er auch diesmal wieder eine Ausnahme machen. Hoffe ich! Seine Augen bleiben verborgen im Dämmerlicht aber ich spüre, wie er mich anstarrt. »Wird Zeit, dass du dein Talent in der Oberliga einsetzt, mein Junge. Nur ein korrupter Bulle ist ein guter Bulle, pflegte schon mein Großvater zu sagen. Leider tauchen aus dem Sumpf der Korruption gelegentlich Gestalten auf, die glauben, sie müssten sich profilieren. Der Präsidialrat hat die Petition eines jungen Staatsanwalts geprüft und der Gründung einer neuen Sondereinheit zur Bekämpfung des Organisierten Verbrechens zugestimmt. Anlass für uns, ein Exempel zu statuieren. Sieht so aus, als müssten wir dem Regierungspräsidium Mal wieder in Erinnerung rufen, wem diese Stadt gehört. Ich möchte, dass du jeden einzelnen dieses Sonderkommandos auslöschst, noch ehe es überhaupt zum Einsatz kommt!«
     Bisher bestanden meine Aufträge darin, Abschaum zu eliminieren. Drogendealer, Chipschmuggler, Zuhälter oder Menschenhändler, die der Russenmafia im Weg waren. Ich fühle, dass ich ein Problem damit habe, jemanden von den Guten zu töten und bange, dass Ibrahimovic meine Bedenken bemerkt.

Ich schaffe es noch rechtzeitig, um zu sehen, wie SIE ihre Zeitung zusammen faltet und den Kellner herbei winkt, um zu bezahlen. Es hat aufgehört zu regnen. Letzte schwere Tropfen klammern sich noch verbissen an die Markise über ihr, ehe die Schwerkraft sie zu Boden reißt. SIE sitzt immer draußen. Entgegen jeder Empfehlung der Gesundheitsbehörde, egal bei welchem Wetter. SIE ist trotzig, beugt sich keinen Zwängen, nicht einmal den schädlichen Emissionen. Ihre Haut glänzt seidig im matten Licht der einfallenden Sonnenstrahlen. Wie immer drücke ich mich tief in den Schatten der gegenüberliegenden Fassade, als sie das Café verlässt. Ich folge ihr durch unser Viertel bis zu dem Haus, in dem SIE wohnt. Beobachte das Spiel ihrer Rückenmuskulatur unter dem engen Top, verliere mich in der Bewegung ihrer Hüften, bewundere die schlanken Fesseln. Ich weiß nichts über SIE und trotzdem brenne ich lichterloh in ihrer Nähe. Wie oft schon war ich kurz davor, in SIE einzudringen. Meinen Geist durch ihre Adern schwimmen zu lassen, nur getrieben vom Schlag ihres Herzens. Einzig der Gedanke daran, ihr Vertrauen zu missbrauchen, hält mich noch davon ab, diesen letzen Schritt zu tun. Oder, es ist die Angst, nie wieder ihren Körper verlassen zu wollen, sobald ich ihn einmal eingenommen habe. Auf immer und ewig, bis dass ihr Tod uns scheidet. SIE bemerkt mich nicht. Das tut SIE nie. Ich bin zu unscheinbar, zu hässlich, um von ihren Rezeptoren überhaupt wahrgenommen zu werden. Ich bin Victor Hugos Glöckner und ich leide schlimmer als Edgar Wibeau es je getan hat. Ich fühle, dass ich sterben werde, sollte SIE mich jemals verlassen. Nicht zum ersten Mal drängt sich mir das unwiederbringliche Gefühl auf, dass SIE mein Ende bedeutet.

Meine Hand zittert, die Vibrationen übertragen sich auf das Foto zwischen meinen Fingern. Es gelingt mir nicht, es ruhig zu halten, egal wie oft ich das Bild auch hoch nehme und anschaue. Ich sehe ihre Augen, ihre vollen Lippen, auf denen der Hauch eines Lächelns zu erkennen ist, wenn man SIE nur lange genug betrachtet. Ich sehe SIE an, lege das Foto wieder zurück in den Umschlag, um es nur Sekunden später wieder heraus zu ziehen. An meinem rechten Jochbein hängt eine Träne aber ich bin nicht in der Lage, sie weg zu wischen.
     Ein Bote des Russen hat mir vor einer Stunde die Unterlagen gebracht. Die Daten meiner neuen Klienten. Die Todesliste. Ich fand SIE unter sechs anderen. Seitdem bin ich nicht mehr fähig, mich zu erheben. Ich sitze an meinem Küchentisch und starre ihr Bild an. Immer und immer wieder hole ich die Aufnahme aus der Mappe. SIE ist eine von den Guten. Ich hätte es ahnen müssen. SIE ist in allem das Gegenteil von mir. SIE ist das Yin, das Licht, die Göttin. Wenn ich der Tod bin, ist SIE das Leben. Ich soll es ihr nehmen. Soll in SIE eindringen. Nicht sanft und unauffällig, wie ich es mir erträumt habe. Nein, brutal, tödlich, ihr Gehirn penetrieren, ihre Aorta zerfetzen, ihren Herzmuskel sprengen, so, wie es mir gegeben ist.

Ich kann nicht mehr schlafen. Die dritte Nacht schon liege ich wach und starre auf die Risse an meiner Schlafzimmerdecke. Gestern hat Ibrahimovic anrufen lassen. Sein Sekretär wollte wissen wie mein Zeitplan für die Liquidierungen aussieht. Ich habe ihn abgewimmelt. Wenn ich es nicht tue, wird der Russe jemand anderen engagieren. Jemanden von außerhalb. Jemanden, der SIE nicht kennt. Der nicht weiß, wie wertvoll SIE ist. Die Zeit arbeitet gegen mich. Gegen uns! Was bleibt mir übrig, als SIE in meinen Glockenturm zu holen. Meine schlimmsten Befürchtungen drohen wahr zu werden. Ich werde nicht umhin kommen, mit ihr zu sprechen. Mich zu erkennen geben.

Mit verschleiertem Blick wandere ich durch die Straßen. Planlos. Auf der Flucht vor mir selbst und meinem Talent. Der Regen macht mir zu schaffen. Die feuchte, beißende Luft brennt in der Lunge. Ich spiele mit dem Gedanken Ibrahimovic zu töten. Und mit ihm die Absicht, ihr Leben auszulöschen. Es hilft mir, diese Idee zu verfolgen. Sie lindert meinen Schmerz und hilft mir, die tonnenschwere Traurigkeit, die auf meinen Schultern lastet, zu tragen. Aber tief in mir drin weiß ich, dass der Russe nur einer von vielen ist. Hinter ihm wartet schon der Nächste, der seinen fetten Arsch in den teuren Designersessel drücken wird. Es wird niemals enden, egal wie viele ich auslösche. Zudem werden sie nicht lange brauchen, um herauszufinden, wer sie umbringt. Keiner töte wie ich! Die Mafia wird mich jagen und letztlich zur Strecke bringen. Dann ist niemand mehr da, der ihre Schönheit bewundert. Ihren Duft atmet. In ihren Smaragdaugen ertrinkt.
     Meine Schritte führen mich zum Polizeirevier. Ich komme nicht umhin, überrascht zu sein. Unterbewusst und zielstrebig hat mich mein Innerstes hierher getrieben. Der Teil in mir, der die Lösung kennt, vor der sich mein Kopf so lange Zeit verschlossen hat. Der Teil, der handelt und keine Emotionen kennt. Ich spüre die Nässe, die langsam durch meinen Mantel sickert. Die Kälte kriecht in meine Knochen und verscheucht den Nebel in meinem Hirn. Offensichtlich gab es niemals eine Alternative. Ich kann SIE retten. Nur ich. Niemand anderes ist dazu in der Lage. Es lag auf der Hand. Von Beginn an. Ich bin der Tod.

© 2006 by Oliver Kern. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

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