Nachruf Der Sommer bricht ein in die sich gähnend räkelnde Stadt. Lustlos bis gestern noch, schleppend rotierend im Wintertrott. Die Stühle vor den unzähligen Straßencafés, die in den letzten Jahren wie Unkraut aus dem Boden geschossen sind, reichen nicht aus. Sommerhungrige Menschen sitzen auf Bordsteinkanten, Blumenkübeln und sogar auf parkenden Autos. Letzteres mag eine Ausnahme sein, die sich auf den Prenzlauer Berg und einen Radius von drei Jahren um das Jahr 1994 beschränkt, aber immerhin. Am Wasserturm gibt es eine würde ich sagen ideale Lösung des alle-wollen-draußen-sitzen-Problems: Eine lange Mauer, die durch die Zweckentfremdung, die sie erfährt eher anmutet wie die hinlänglich bekannte Hühnerstange. Die Leute haben auffallend gute Laune. Und geküsst und geturtelt wird, als wäre heute die letzte Gelegenheit dazu. Irgendwo habe ich doch noch einen Stuhl ergattert. Der Körper fühlt sich etwas matt durch die Schwüle bei immerhin 30 Grad Celsius. Vielleicht ist auch die Schwerkraft stärker geworden, aber Versuchsreihen hierzu fehlen noch. Ozon gibt es natürlich auch, angeblich aber eher in den Außenbezirken. Der Alltag rückt in irgendeine Ferne, der nächste Morgen befindet sich noch dort. Schließlich ist Sommer, wir haben lange genug auf ihn gewartet und jetzt wird gelebt. Ich bestelle einen Milchkaffee und fühle mich absurd. Mir fällt aber ein, dass die Menschen im Süden auf heiße Getränke schwören. Ich bin beruhigt. In der Zeitung bemerke ich schon das Sommerloch. Richard von Weizsäcker verabschiedet sich und ein bürgernaher Herzog mutet manchem politikerfremden Aldigänger sicher fraglich an. Ein Unbekannter ist tot. Entsprechend klein und unauffällig ist der Artikel, der uns dies mitteilt. Im Wedding ist er letzte Nacht auf ein Baugerüst geklettert,18 Meter hoch. Ein Meter neunzig war er groß und 25 Jahre alt. Mitsamt seiner grauen Augen und den blonden Haaren ist er von dem Baugerüst gesprungen, 18 Meter tief. Er war mit einem weißen T-Shirt bekleidet, auf dem stand: »Ich war als Kind schon scheiße.« |