Krawatte Der Samstagabendbesuch
von Robert Sass

Sie wartete mit dem Essen.
     Bereits zehn Minuten war er jetzt überfällig. Um Gelassenheit bemüht, setzte sie sich, griff nach der Illustrierten, legte sie wieder beiseite, trat - zum wie vielten Male an diesem Abend? - vor den Spiegel.
     Das neue Kleid schien überhaupt nicht richtig zu sitzen, und die Frisur - na ja! Vielleicht hätte sie doch…? Ein nervöser Blick streifte das Telefon. Hoffentlich kam nicht gerade heute Abend wieder einer dieser Anrufe. Vorsichtshalber den Stecker aus der Wand? Aber was, wenn er fragte, ob er mal eben ihren Anschluss…? »Aber sicher doch, einen Moment, ich - hihi - muss nur erst einstöpseln.« Der musste ja denken, er wäre hier in der Klappse!
     Seit Wochen ging das jetzt schon so mit den Anrufen, an manchen Abenden bis zu elfmal. Sooft sie zu Anfang einfach immer wieder »Hallo?« in den Hörer rief, oder auch, »B., bist du's? Komm schon, du albernes Huhn, sag was!« - es kam keine Antwort. Dann wieder wurde aufgelegt, bevor sie überhaupt den Mund aufgemacht hatte.
     Nach dem ersten Wochenende wurde ihr das Ganze dermaßen lästig geworden, dass sie entschlossen war, ihre Telefonnummer ändern zu lassen. Gleich am Montag hatte sich auf der Post ein Formular geben lassen. Merkwürdigerweise war am Abend der Apparat vollkommen stumm geblieben, und sie hatte angenommen, der Spuk sei zünde. Und als es dann doch weiterging - am Dienstagabend war das Telefon nach einem einzigen Klingeln wieder verstummt, und als am Freitag dieser ominöse Mensch - laut B. gab es keinen Zweifel, dass es sich da wieder mal um einen dieser Perversen handelte - bei seiner bisherigen Höchstleistung von sechs Anrufen angelangt war, da hatte sie diesen gottverdammten Änderungsantrag verlegt und konnte ihn nicht mehr wieder finden.
     Vielleicht doch den Stecker…? Obwohl: gestern Abend war es eigentlich völlig ruhig geblieben. - Da, die Türklingel, endlich! Ein letzter Blick in den Spiegel, tief durchatmen und los, Tür auf, die üblichen Floskeln, nett, dass Sie Zeit gefunden haben, bin ich zu spät, aber nein, bitte kommen Sie doch durch, nehmen Sie Platz, möchten Sie etwas trinken, danke, ich hoffe Sie mögen Schellfisch, wenn Sie mich jetzt bitte einen Moment entschuldigen…
     Pralinen hatte der mitgebracht. Wie einfallsreich! Und sah fast noch besser aus als vor zwei Tagen bei ihrer ersten Begegnung. Und schuld an allem war natürlich B., die alte Kupplerin, die scheinheilige Ziege.
     »Ich glaube, ihr kennt euch noch nicht. Das ist Hartmut«, und nach einem unübersehbaren Augenzwinkern: »er leitet unsere Versandabteilung.
     Ach -«, und dies in einem Tonfall, der Widerspruch von vornherein nicht zuließ, »du hast doch nichts dagegen, wenn Gerd und ich ihn Samstag zum Essen mitbringen…?« Dann, vor zwei Stunden, der Anruf B.'s, Gerd sei beim Tennis mit dem Fuß umgeknickt, schmerzhafte Sache, möglicherweise eine Fraktur.
     Genau an dieser Stelle hatte im Hintergrund Gerd - wie G. später argwöhnte, auf ein Handzeichen B.'s hin - schmerzvoll aufgejault. Jetzt müsse sie ihn zum Arzt fahren, wolle nur kurz Bescheid sagen, dass es nichts werde mit heut Abend. Sie melde sich dann…Hartmut? Dem habe sie leider nicht mehr absagen können, der sei vermutlich schon unterwegs, sie habe ihm G.'s Adresse gegeben, ob G. sie bitte entschuldigen könne.
     Es war zu einem heftigen Disput gekommen, an dessen Ende B. ihr zum x-ten Male für immer die Freundschaft aufgekündigt und dann tödlich beleidigt aufgelegt hatte.
     »Meine Freundin und ihr Lebensgefährte lassen sich entschuldigen«, rief sie hinüber in die Wohnstube, »es ist ihnen leider etwas dazwischengekommen.« Als sie ins Zimmer trat, erhob er sich, und einen kurzen Moment lang standen sie einander verlegen gegenüber. »Aber bitte, nehmen Sie doch Platz, das Essen ist fertig.« Als alles serviert war, als auch sie sich schließlich hatte setzen müssen und während beide begannen, sich schweigend, jeder für sich, mit dem Fisch zu beschäftigen, suchte sie fieberhaft nach irgendeinem unterhaltsamen, aber nicht anspruchslosen Gesprächsfaden. Welches Thema konnte ihn interessieren, einen Mann wie ihn, einen gut aussehenden Mann in den besten Jahren? - Seine Arbeit? Ein unverbindlicher Einstieg.
     Und Männer redeten doch im Allgemeinen gern über ihre Arbeit.
     Etwa so? »B. hat mir erzählt, Sie sind im Versand tätig? Stell ich mir ja unheimlich spannend vor…«
     Vergiss es! Menschen wie B., ja, solche, die den Smalltalk zu ihrer Lebensphilosophie erklärten, die sozusagen auf Kommando dazu fähig waren und ihre Rolle als Mittelpunkt der Party jeden Moment auskosteten, die konnten über teuren Salat schimpfen, und alle lauschten ehrerbietig, als würden ihnen gerade vertraulichste Geheimnisse offenbart. Aber sie, G., das ewige Mauerblümchen…
Was redet man bloß mit einem, den man seit gerade mal zehn Minuten kennt?
Sie versuchte ein Lächeln.
     »Die Katze meiner Nachbarin hat gestern Junge gekriegt.« Er blickte auf, sah abwartend herüber, okay, jetzt am Ball bleiben, und vor allen Dingen lächeln, lächeln, lächeln. Er wandte sich wieder seinem Fisch zu.
     »Es ist so eine von diesen schwarz-weißen Katzen, und sie hat auch ein ganz weiches Fell.«
     Ein kurzes Nicken. Gott, er musste sie ja für komplett unterbelichtet halten. »Mögen Sie Katzen?« Er schluckte. »Nicht unbedingt. Katzenallergie. Scheußliche Sache, das kann ich Ihnen sagen.« »Oh, das tut mir sehr leid.« Er zuckte die Schultern nahm die Gabel, um eine Kartoffel breitzudrücken.
     Sie konnte spüren, wie ihr Körper zusammensackte. Mit Sicherheit ähnelte ihr Gesicht jetzt einem Radieschen mehr als allem anderen.
Gut, damit war der Abend also gelaufen! Der würde bestenfalls noch aufessen, dann auf die Uhr blicken und irgendwas vor sich hin murmeln, »Oh, schon wieder so spät« oder ähnlich originelle Abschiedsankündigungen.
     Jetzt um Himmelswillen irgendwas finden, irgendwelche halbwegs zusammenhängenden Satzgefüge, egal was, nur um diese unerträglich peinliche Stille zu übertönen! Ewig konnte das hier ja wohl nicht dauern, also red, Mädchen, red um dein Leben!
     »Interessieren Sie sich für Kunst?«
     Er blickte auf und legte sein Besteck beiseite.
     So, dachte sie, das war's. Nun geht er.
     Doch da passierte das Unerwartete. Von einem Moment auf den anderen war sein Gesicht von seligem Strahlen überzogen, und er begann zu reden, tatsächlich zu reden.
     Na, und ob er sich für die Kunst interessiere, insbesondere für die Literatur, wissen Sie, er lese da gerade so einen Zukunftsroman, übrigens einfach toll, Ihr Fisch, also, in diesem Roman, von so einem Amerikaner, hervorragend geschrieben, da gehe es um eine Kultur in der fünften oder sechsten Generation nach dem atomaren Overkill, also, die Atmosphäre hat sich dann, behauptet dieser Roman, dermaßen aufgeheizt, dass alle Menschen die ganze Zeit über nackt herumlaufen können, verstehen Sie, ach ja, und infolge einer Genmutation wächst denen am ganzen Körper kein einziges Härchen mehr. Nun sind aber in dieser Kultur die Männer beinah vollkommen ausgestorben, das Ganze muss daher regiert werden von weiblichen Wesen, und die bezeichnen die wenigen verbliebenen Männer kurioserweise als »Töchter, die anders sind«. Sie begreifen, ja? Der - haha - »kleine Unterschied« wird dabei gänzlich ausgeklammert. Nun aber findet in regelmäßigen Abständen, im Roman ganz detailliert beschrieben, eine Zeremonie statt, in einer verlassenen Ruinenstadt, vor dem Krieg ein florierendes Einkaufszentrum, das aber jetzt missverstanden wird als antike Kultstätte. Also herrlich sozialkritisch das Ganze. Da führen sie ihr Ritual durch, ach, wenn Sie jetzt doch ein Gläschen Wein, vielen Dank, wo war ich, ach ja, das Ritual…
     Eine halbe Stunde lang ging es so weiter. Jeder ihrer Versuche, seine Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema zu lenken, führte dazu, dass er zu dem angebotenen Gesprächsstoff in einem einzigen Satz Stellung bezog, um sie dann am Arm zu fassen und eifriger als zuvor die Paarungsgewohnheiten dieses postatomaren Volksstammes zu schildern. Irgendwann mittendrin stand sie auf (»Sie entschuldigen mich kurz.«) und zog sich unter dem Vorwand, das Geschirr abräumen zu müssen, in die Küche zurück.
Auf was hatte sie sich da bloß wieder eingelassen!
     Vor allen Dingen: wie kam sie da wieder raus? Sie würde einfach hier in der Küche sitzen bleiben, bis der weg war. Irgendwann musste ja auch der Bekloppteste merken, dass er hier nicht mehr erwünscht war. Paarungsrituale! Was in Dreiteufels Namen machte sie falsch!
     »Verzeihen Sie…«
     Sie hatte ihn nicht hereinkommen hören, und wie er so dastand, das während seiner erregten Schilderung abgelegte graue Sakko über dem Arm, die Krawatte gelockert, die Müdigkeit in seinem etwas erhitzten Gesicht, wie er langsam und verlegen näher kam - oh nein, er musste ja ihre geröteten Augen sehen - da hatte sie bald alle Peinlichkeiten der vergangenen Stunde vergessen, da vergaß sie das schmutzige Geschirr, vergaß das Büro, das am Montag wieder mit ihren spöttischen und missgünstigen Kolleginnen auf sie wartete, und vergaß auch das Telefon, das bereits seit zwei Minuten ununterbrochen klingelte…

© 1998 by Robert Sass. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.


ZurückSeitenanfangWeiter