Himmelblau von J. R. Fansa14. November / 11.25 - Nadjeschda weiß es auch nicht. Michelle klappt den Mantelkragen hoch und bauscht ihren Schal etwas auf. Es ist ein Grad über null und klar. Irgendwo muss das Meer doch sein. Man riecht es förmlich. Michelle schaut. Nadjeschda sieht Schafe und zeigt aufs andere Ufer. Michelle lacht. Die Schafe blöken und Michelle will Meer. Nadjeschdas Achselzucken dazu. Dann rennt Michelle los, den Schotterweg in eine der beiden Richtungen (Nadjeschda meint, es sei die mit dem blaueren Himmel). Jetzt sieht die Freundin sie kleiner werden beim Laufen, ihr dunkles Haar flattern, über der Sprinterin blassblauer Himmel, darunter dunkelgrüner Deich - daneben der Fluss spiegelt die Farbe des Himmels und die Welt scheint sich dort zusammenzuziehen. Rechts in der Ferne ein unsinniges Flirren am Horizont mit scheinbaren Kuttern und der Illusion von Strand. Nadjeschda rennt jetzt auch, dem graubraunen Fleck von Michelles Mantel hinterher, Schwindel kommt -

14. Dezember / 17.48 - Vom Schnee am Ende der Dämmerung hat alles blassblauen Schimmer. Vereinzelt gelbliche Zirren. Michelle umarmt einen Baum an der Deichböschung. Nadjeschda sieht Jupiter und Saturn. Die Schafe sind nicht da. Dann macht sie Wolken aus Atem und sagt zu Michelle »Gehen wir suchen?« Michelle entwindet sich dem Baum. Irgendwo muss es ja sein. Es riecht nicht danach, aber es ist ganz in der Nähe, beide sind sicher. Krähen sind zu hören.
     Spaziergänger kommen aus Richtung Greetsiel vorbei. Michelle schweigt und streicht über die Rinde - die ist in diesem Licht fast schwarz. Nadjeschda streicht sich eine dunkelblonde Strähne aus dem Gesicht und atmet in ihren Schal, dass er warm wird. Michelle lehnt an dem Baum. Nadjeschda steht erhöht auf dem Deichweg. Die Temperatur ist sicher unter null. Keine Schafe und es dunkelt.

14. Januar / 16.52 - Kühl ist es. Der Deich wie vollgesogen mit Regenwasser. Über den Fluss verbindet eine moosige Holzbrücke beide Deiche. Meer ist nicht in Sicht. Über die Baumwipfel hinweg sind die Masten von Kuttern zu sehen. Sie stehen im Hafen von Greetsiel. Nadjeschda alleine am Brückengeländer. Wo das Meer ist, weiß sie nicht. Die Sonne geht gelb-blau unter. Auf der anderen Seite erste Sterne, Dämmerstreif ringsherum, kein Flirren am Horizont. Was Nadjeschdas Stehen dort von einem Foto unterscheidet: Fliegende Krähen und hin und wieder Bewegung von Mastspitzen hinter den Bäumen. Michelle konnte nicht mitkommen. Feuchte Kälte trieft.

14. Februar / 12.20 - Michelle lässt die Kieselsteine unter ihren Ledersohlen knirschen. Es ist nichts zu sehen. Nebel ohne Himmel und Horizont. Graugrünes Gras, Schafblöken ohne Schafe, weiße Wand. Nadjeschda blättert. Dann beginnt sie, Seiten auszureißen, eine nach der anderen. Sie zählt die Seitenzahlen mit und stapelt die ausgerissenen Blätter zwischen Daumen und Zeigefinger - links. Michelle schaut und zwirbelt das dunkle Haar. Ihr Mantel ist geknöpft. »Suchen wir das Meer?« fragt Michelle. Nadjeschda zählt und reißt und reißt und zählt. Dabei nickt sie und schüttelt dann den Kopf. Michelle kniet sich hin und fühlt das Gras - taufeucht, nicht matschig. Als der Einband leer ist, wirft Nadjeschda ihn gen Fluss. Unsichtbar ist ein Platschen zu hören. Ein halbherziges Platschen. Eines, das verrät: Da ist nichts untergegangen.
     Nadjeschda geht. Michelle kommt mit. Die Seiten werden verteilt, Blatt für Blatt in regelmäßigen Abständen - manchmal mit Pause, dann wieder rhythmisch. Mal rechts, mal links vom Schotterweg. Michelle spürt ihre Augenlider vom Nebel kalt werden - heilsam ist dann, sie zu schließen. Aber dann sieht sie den Weg nicht mehr, und er ist alles, was sichtbar bleibt vor der weißen Wand mit dem graugrünen Gras links und rechts. Ein Plätschern lässt das Wasser erahnen. Eine Ente quakt. Nadjeschda verteilt. Es ist trocken und neblig, vielleicht vier Grad Celsius.

14. März / 12.31 - Niemand anwesend.

14. April / 15.12 - Michelle und Nadjeschda sitzen auf dem Deich. Das Gras ist feucht und Michelle spürt, wie es Mantel, Hose und Unterhose durchweicht. Michelle friert. Nadjeschdas Mantel ist dicker. Tag ist grau, mit weißem Himmel und Langeweile unter jedem Stein. Die feuchte Rinde der Baumskelette ist schwarz, der Winter stirbt. Weiße Wasseroberfläche, durchädert von vereinzelten Spiegelungen der Äste. Keine Geräusche aus Greetsiel. Am Horizont scheiden sich Weiß des Himmels und Schwarz des Bodens. Krähen machen von sich hören. Noch keine Spur von aufbrechenden Knospen. Nadjeschda macht Wolken aus Atem. Temperatur: keine Ahnung. »Ich hab keine Lust mehr«, sagt Michelle. »Mir ist jetzt egal, wo das Meer ist.«
     Nadjeschda nickt. »Gehen wir?« fragt sie. Michelle nickt. Beide stehen auf und gehen. Wo Greetsiel ist, wissen sie. Wo das Meer ist, das wissen sie nicht.

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