Handyman

Handymania
von Stefan Schrahe

Ich habe Kurt bei einem Grillfest der Schulklasse meiner Tochter kennen gelernt. Das war noch auf der Grundschule, ist jetzt also mindestens vier Jahre her. Während die meisten Väter sich fachmännisch darum bemühten, ein ordentliches Feuer in Gang zu kriegen, saßen wir mit unseren Frauen etwas abseits. Außer das unsere Kinder in die gleiche Klasse gingen, kannte meine Frau Kurts Lebensgefährtin vom Power-Walking. Sie und Kurt waren gerade erst zusammengezogen.
     Als sich das offene Feuer und der Rauch verzogen hatten, ertönte plötzlich von irgendwoher dieses typische elektronische Piepsen, das zu jener Zeit von fast allen Handys zu hören war. Eine angedeutete Melodie mit nicht mehr als drei oder vier unterschiedlichen Tönen. Sofort sprang Kurt von dem Baumstamm hoch, auf dem er gesessen hatte, drehte sich um die eigene Achse, hüpfte über den Stamm und hechtete in drei, vier langen Sätzen auf seine Lederjacke zu, die er an einem Ast aufgehängt hatte. Zielsicher griff er in die Innentasche, holte sein Mobiltelefon heraus und drückte auf einen Knopf, um den Anruf entgegenzunehmen.
     »Was Dringendes?« fragte ich seine Freundin.
     »Nein, sein Handy schaltet nur immer schon nach dreimal Klingeln auf die Mailbox um«, antwortete sie.
     »Kann man das nicht einstellen?« fragte ich.
     »Man schon - aber er nicht!«
     Aus ihrem Blick und der Art, wie sie das sagte, war klar erkennbar, dass das noch junge Glück der beiden einer solchen Belastungsprobe auf Dauer nicht gewachsen sein würde. Sie hielt ihn - zumindest in dieser Beziehung - offenbar für einen Versager. Deswegen nahm ich Kurt - als sich wenig später eine günstige Gelegenheit ergab - beiseite und sprach ihn freimütig auf sein Problem an. Nur wenige Tage zuvor war ich nämlich selbst daran gescheitert, eine Rufumleitung auf meinen Festnetzanschluss zu legen, hatte diesen Vorfall jedoch glücklicherweise für mich behalten können. Immerhin konnte ich dadurch aber nachvollziehen, wie es ist, als Mann in solchen Situationen zu versagen und mir auch vorstellen, um wie viel schlimmer es sein musste, wenn dies auch noch permanent und vor den Augen anderer, insbesondere der Partnerin, passierte.
     Direkt helfen konnte ich ihm nicht. Er hatte ein Handy einer anderen Marke, dessen Menüführung ich nicht verstand, aber ich hatte den Eindruck, dass es ihm gut tat, offen reden zu können und zu wissen, dass er mit seinem Problem nicht alleine da stand.
     Etwa zwei Jahre später musste ich wieder an Kurt denken. Ich fuhr meine Tochter zur Schule, sie saß neben mir - damit beschäftigt, noch einige wichtige Nachrichten per SMS loszuwerden. Plötzlich klingelte mein Handy. Mein alter Kartenvertrag war inzwischen abgelaufen und ich hatte ein neues Gerät bekommen, das zu diesem Zeitpunkt gerade erst drei Wochen alt war. Ich nahm das Gespräch an, beendete es aber schnell wieder, da ich beim Autofahren nicht gern telefoniere. Meine Tochter hatte während dieser paar Sekunden keinen Blick von ihrer Tastatur gelassen, aber als ich mein Handy weggelegt hatte, sagte sie ganz beiläufig:
     »Du hast ja immer noch denselben Klingelton.«
     Ich fühlte mich ertappt, von einer auf die andere Sekunde demaskiert, meiner väterlichen Autorität beraubt, da ich zentralen Lebensanforderungen offenbar nicht gewachsen war. Ich musste mir ehrlich eingestehen, dass ich absolut keine Ahnung hatte, wie ich den Klingelton hätte wechseln sollen, ja sogar daran noch nicht mal eine einzige Sekunde lang gedacht hatte. So murmelte ich irgendwas von »ist ja noch neu« oder »muss mir das mal angucken« und beschloss, abends Kurt anzurufen.
     Nach dreimaligem Klingeln meldete sich zwar die Mailbox, aber ich versuchte es direkt noch mal, da ich mir ja denken konnte, dass sein Spurtvermögen wohl wieder mal nicht ausgereicht hatte, um rechtzeitig am Apparat zu sein. Tatsächlich nahm er den zweiten Anruf direkt - wenn auch etwas außer Atem - entgegen. Ob wir uns mal treffen könnten, fragte ich ihn. Es ginge um Handys. Wir verabredeten uns für den folgenden Dienstag in einem Bistro in der Nähe der Uni-Klinik, das abends immer relativ leer ist.
     Zu unserem ersten Treffen hatte Kurt noch einen Freund mitgebracht, der nicht wusste, wie die Notizbuch-Funktion an seinem Handy aktiviert werden konnte. Kurt selbst hatte neben seiner unbewältigten Klingel-Geschichte das Problem, keine SMS mehr empfangen zu können. Wie sich herausstellte, war schon seit Monaten sein Speicher voll, er hatte nur keine Ahnung, wie man den löscht. Der Abend verlief sehr erfolgreich. Wir lösten alle drei gemeinsam unsere dringendsten Probleme und beschlossen, uns in regelmäßigen Abständen wieder zu treffen, um neue Praktiken und Funktionen auszuprobieren.
     Seitdem ist viel passiert. Nach einem Jahr haben wir die Treffen unserer Handy-Selbsthilfegruppe in ein Internet-Cafe verlagert. Nachdem wir die Grundfunktionen unserer Mobiltelefone verstanden hatten, fühlten wir uns stark genug, jetzt auch neben der Pflicht gewissermaßen das Kür-Programm anzugehen.
     Zuerst wagten wir uns an Klingeltöne. Wir lernten, Geräusche, Melodien oder Sprache aufzunehmen oder aus dem Internet downzuloaden, als Klingelton zu speichern und einzelnen Anrufern zuzuordnen. Ich werde nie vergessen, wie glücklich Kurt war, als er »Hell’s Bells« von AC/DC als Standardklingelton auf seinem Handy eingespeichert hatte, aber das Brüllen eines Grizzlybären ertönte, wenn seine Schwiegermutter anrief.
     Um uns auf dem neuesten Stand zu halten, wurde es bald nötig, unsere Treffen in immer kürzeren Abständen auszurichten. Inzwischen sehen wir uns zweimal die Woche. Dabei beschäftigen wir uns auch mit handy-philosophischen Fragen. Was beispielsweise, wenn ein Handy auch ein MP3-Player, ein digitales Diktiergerät und ein Organizer ist? Kann man es dann noch immer als ein Handy bezeichnen?
     Am meisten aber beschäftigen wir uns mit Upgrades. An meinem Gerät habe ich kürzlich die GPRS Class 8 Unterstützung mit 57,6kBit/sec, auch via Infrarot (IrDA), die EMS Unterstützung mit bis zu 760 Zeichen, Bildern und Sounds, Kung Fu by Battlemail™ und MS Outlook™ Daten-Synchronisation via Infrarot (IrDA) installiert. Ich weiß zwar noch nicht, wofür das alles gut ist - darüber wollen wir dann das nächste Mal sprechen -, aber immerhin konnte man mit dem Handy nach der Installation noch telefonieren.
     Meine Tochter hat mich neulich zum ersten Mal gefragt, ob ich ihr Handy mal zur Selbsthilfegruppe für einen Upgrade mitnehmen kann. Da wusste ich, dass ich es geschafft hatte. Kurt und seine Freundin sind inzwischen wieder getrennt. Sie hat sich geweigert, auf ein MMS-fähiges Handy umzusteigen. Eigentlich schade - Kurt hätte ihr so gerne von seinem neuen Nokia mit integrierter Digitalkamera öfter mal Schnappschüsse von unterwegs zugeschickt.
     Ist aber nicht so schlimm. Er hat jetzt eine Frau kennen gelernt, die schon eines der ganz neuen Generation mit Klingeltönen im Dolby Surround 5.1 Format und der Möglichkeit, sich ganze Kinofilme downzuloaden hat. Letztens, hat er gesagt, hätten sie sich »9 ½ Wochen« in voller Länge auf dem Handy-Display angesehen.
     Vor vier Jahren wäre das undenkbar gewesen.

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