Das Szenario ist immer dasselbe: Ich gehe mit dem Frühstückstablett hinein - der gewohnte süßliche, zeitweilig fast penetrante Altjungferngeruch schlägt mir entgegen -, stelle es auf den Tisch mit der roten Tischdecke aus dunkelrotem, grob gewebtem Wollstoff, finde kaum Platz dafür, sage »Guten Morgen, Frau Nassauer«, räume das Telefon, den zerknitterten Zettel mit der Telefonnummer ihrer Nichte Nadine, das Adressbuch, einen fast leergetrunkenen Viertelliter-Tetrapak Orangensaft mit herausragendem Trinkhalm vom Rolltisch auf das Nachtkästchen, bewege mich auf den Tisch des Zimmers zu, um das Tablett zu holen und es auf das leergeräumte Beistelltischchen zu stellen. Ich nenne Elisabeth Nassauer (manche reden sie mit Fräulein an) in Gedanken und gelegentlich auch scherzhaft im Gespräch mit Kollegen und Kolleginnen »Tante Lise«. Diesen Namen habe ich von Nadine übernommen, die beiden stammen aus dem Elsaß, dessen Idiom bekanntlich vom Französischen durchwachsen ist. Sie spricht es aus wie »Tatt Lies«, mit kurzem, hellem, nicht nasalen A und stimmlosem S. Wenn ich hereinkomme, liegt Tante Lise meist auf dem Rücken, adrett zugedeckt, das Haar fällt nicht in wirren Strähnen auf die Schultern, sondern bleibt auch während der Nacht zu einem mehr oder weniger ordentlichen Knoten geformt. Die Pflegerin, die auf dieser Abteilung Dienst hat, war meistens schon bei ihr, um ihr aus dem Bad die Zahnprothese zu holen und es ihr für das Frühstück bequem zu machen. Kaum habe ich das Tablett abgesetzt und den Tisch so hingerollt, dass sie ihr Frühstück gut erreichbar vor sich hat: »Könnten Sie bitte das Kopfteil noch etwas höher stellen?« Oft spricht sie hochdeutsch mit mir, mein schwarzes gewelltes Haar und der Schnurrbart machen mich in ihren Augen zum Ausländer. Sie nimmt die Prothese manchmal erst in den Mund, bevor sie anfängt zu essen. Die beiden vorderen oberen Schneidezähne sind noch ihre eigenen, die Eckzähne auch. Die Lücke dazwischen gibt ihr das Aussehen eines Rieseneichhörnchens, konvexe Brillengläser mit einem goldenen, dünnen Rand lassen ihre blauen Augen noch größer erscheinen. Ich nehme das Bedienungskästchen für das Bett in die Hand, das Kopfteil bewegt sich mit leisem Surren rauf und runter und ist nun endlich in der Position, die Tante Lise wünscht. Ich habe Tante Lise bestimmt schon fünfzig-, hundertmal ihr Frühstück gebracht und weiß, dass Honigbrötchen unverzichtbar dazugehören. Noch habe ich das Tablett mit allem was drauf ist, Teller mit Butter, Brot und Marmelade, Messer, Untertasse, Tasse, Kaffeelöffel, die beiden Kännchen mit dem Kaffee und der Milch nicht zurechtgerückt, folgt die nächste Anweisung des hungrigen Nagers: »Den Honig, bitte.« Eher selten: »Könnten Sie mit bitte noch den Honig reichen.« Nie spricht sie mich mit Namen an, ich glaube, dass sie vorgibt, ihn nicht zu wissen, denn ein einzelner Domestik braucht keinen Namen. Meine Chance, das Spiel zu gewinnen, besteht darin, den zeitlichen Ablauf meiner Handreichungen so abzuändern, dass der Gang zum antiken Bauernschrank, der den süßen Schatz birgt, für sie nicht voraussehbar sein kann. Dies ist gar nicht so einfach, denn sie hat genug Zeit, jede meiner Bewegungen immer wieder zu beobachten. Nun macht sich Tante Lise daran, den Kaffee und die Milch einzugießen, und ich verlasse das Zimmer, um den letzten Gast zu bedienen, eine weitaus einfachere Prozedur, und gehe ins Parterre hinunter, um die ersten Tabletts wieder abzuräumen. Nach gut einer halben Stunde stehe ich wieder vor Tante Lises Zimmer, nichts ist diesmal anders als sonst. Ich nehme das Tablett, räume das Geschirr auf den Wagen im Korridor, um ihre Siebensachen wieder auf dem Beistelltisch zu ordnen. Tante Lise hat bereits die Hände zum Gebet gefaltet, achtet aber trotz des gesenkten Blicks genau darauf, dass ich alles richtig mache. Ich sage auf Wiedersehen, und sie sagt, als wäre ich ein Botschafter des Himmels, mit dem sie gerade Verbindung aufnehmen will: »Vielen Dank für das feine Frühstück.« Ich kann nicht den leisesten Ausdruck von Dankbarkeit aus ihrer Stimme heraushören, wirklich nicht. Damit wäre unsere morgendliche Begegnung an sich beendet. Bis mein Blick auf ihren Teller fällt, der zuoberst auf dem Stapel liegt. Er ist säuberlich leergegessen, die nicht angerührte Konfitüre habe ich bereits zu den andern gelegt. An den paar Krümeln macht sich eine Fliege zu schaffen, ich will sie wegscheuchen. Sie fliegt aber nicht weg, denn sie kann nicht. Ihr fehlt der linke Flügel. Als wäre er säuberlich abgetrennt worden. Nicht den geringsten Hautrest kann ich entdecken. Ich mache ihrem Leiden rasch ein Ende. Etwa eine halbe Minute lang nehme ich von meiner Außenwelt fast nichts mehr wahr. Vor meinem geistigen Auge erscheint Tante Lise, zwischen Daumen und Zeigefinger zappelt, hilflos wie in einer Zwinge, die Fliege. Ihre Rechte, unerwartet mit viel Feingefühl ausgestattet, tastet den Fliegenkörper der Länge nach ab. Jede Zehntelsekunde ihrer Macht kostet sie aus. Kein Psalm, kein Vers des neuen Testaments aus der Bibel mit den abgegriffenen schwarzen Deckeln und der goldfarbenen Frakturschrift, die auf dem schmalen Regal auf der linken Seite ihres Bettes liegt, fällt ihr in diesem Augenblick ein. Doch noch ein winziges Zögern, bis ein langer, gelblicher, etwas poröser Nagel eines mageren Zeigefingers auf seinen größeren und kräftigeren Partner am Daumen trifft, dazwischen das hauchdünne Pergament des Fliegenflügels. Als er abgetrennt wird, hätte man ein Geräusch hören müssen, das sich ähnlich anhört wie das Zerreißen einer perforierten Kinokarte, nur lauter und viel eindringlicher, und gleich danach einen ohrenbetäubenden, spitzen Schmerzensschrei. Aber nichts von alledem. Die erduldeten Qualen des Insekts werden von niemandem wahrgenommen. Meine Sinne sind wieder frei für die übliche Wirklichkeit, ich rieche die Essenreste auf den Tellern wieder und den weggeschütteten Kaffee im blauen Plastikeimer mit den Brotbrocken, die darin herumschwimmen. Geräuschlos öffne ich die Tür zu Tante Lises Zimmer, ich kann nicht anders. Inzwischen hat sie sich zurückgelehnt und ist wieder eingeschlummert, mit leise lächelndem Eichhörnchenmund und immer noch gefalteten Händen. |