Fliegendreck
von A. Westhagen

Meine Mutter ist zu Besuch. Wenn Sie es kommt, meint sie es gut. Damit ich sehe, womit sie es gut meint, bringt sie immer einen Gutmeiner mit. Manchmal ist es ein Kuchen. Sie weiß, ich backe nicht gern. Manchmal ist es eine abgetragene Bluse. Oder eine, deren Farbe mir nicht gefällt. Oder eine, die sie vor drei Wochen von ihrer Nachbarin geschenkt bekam. Die Nachbarin will doch immer die schönsten Blusen in die Kleidersammlung geben. Das lässt meine Mutter nicht zu. Sie hat doch vier Töchter. Damit kann sie viele Gutmeiner verschenken. Sie schenkt doch so gerne. Macht gerne Freude. Auch mit den Blusen, die wir alle hassen. Die wir sofort in den Kleidersack stecken. Aber es hat doch nichts gekostet! Ach ja, wir freuen uns. Wir freuen uns an Mutters Gutmeiner. Deshalb nehmen wir alles. Kleidersack hin oder her. Und Mutter freut sich über unsere Freude.

EimerHeute hat Mutter aber keinen Kuchen. Auch keine Bluse. Sie hat ein Fensterwischtuch. Ganz neu. Ein besonderes Tuch. Hat über zwanzig Mark gekostet. Über zwanzig Mark für so ein bisschen Stoff. Alle Achtung. Ein Supertuch. Meine Mutter gerät ins Schwärmen. Für all meine Fenster hab ich nur noch die halbe die Zeit gebraucht. Sagt sie. Aber sie putzt doch nie alle Fenster auf einmal! Es ist vermutlich wieder symbolisch gemeint. Wir sprechen oft symbolisch miteinander. Wir kennen unsere Über- und Untertreibungen. Erkennen uns im Wortsinn. Niemand käme von uns auf die Idee, solche Aussagen als glatte Lüge zu bezeichnen. Es ist halt die familieneigene Symbolsprache. Unsere eigene Realität. Unabhängig davon, ob sie stimmt oder nicht. Unsere Freude über Blusen stimmt ja auch nicht immer. Aber das macht nichts. Nicht, wenn man sich liebt. Wir wissen genau um Fehlinformationen. Sie sind ein Ritus. Keine Lüge. Aber das mit den zwanzig Mark stimmt tatsächlich. Keine Übertreibung. Das Preisschild hat sie mitgebracht. Sicherheitshalber. Ja, dann muss man alle Fenster ja in der halben Zeit schaffen. Bei so viel Geld. Selbst wenn man sie nicht alle putzt. Sie meint es halt theoretisch. Sozusagen.

Supertücher putzen eben superschnell die superverdreckten Fenster, wenn eine supertolle Mutter das will. Meine Fenster sind fällig. Ich auch.

Meine Mutter ist Mitte siebzig. Junggeblieben und rüstig. Aber muss sie nun bei ihrem Besuch unbedingt meine Fenster putzen? Ja. Sie muss es. Turnt die Fenster hoch. Mit ihrem neuen Gutmeiner. Ich halte dies für übertrieben. Sie schnappt sich einen Stuhl und fängt an. Es gibt überhaupt keine Streifen. Wirst es gleich sehen. Behauptet sie. Du brauchst kein Spülmittel. Aber ich verwende doch sowieso keines. Das sag ich nicht. Will sie nicht kränken. Ich sage, das ist ja toll. Kein Spülmittel! Du brauchst auch nicht mehr nachzuwischen. Das tat ich bisher allerdings. Mit altem Zeitungspapier. Manchmal nehm ich auch das neue, das von der heutigen Tageszeitung. Ehekrach abends. Ich schwöre auf meine Zeitungen zum Nachputzen. Streifenfrei. Meine Mutter schwört auf ihren neuen Gutmeiner. Ja, bis vor kurzem hat sie auch noch Zeitungen benutzt. Doch diese Zeiten sind vorbei. Für immer. Seit Gerlinde ihr das Tuch besorgt hat. Nur ein Putzgang. Die Hälfte der Zeit.

Mein Gott, wo hast du nur all die Fliegen her? Mutti, wir wohnen doch nahe bei den Pferdeställen. Dann musst du eben öfter putzen. Aber jetzt brauchst du ja nicht mehr nachzuwischen. Meine Mutter rubbelt am Fliegendreck. Er sitzt massiv. Der geht nicht ab. Der geht ja gar nicht ab, stellt meine Mutter fest. Der geht nie leicht ab. Sag ich. Den muss man immer mit einem rauen nassen Schwamm vorbehandeln. Na ja, normale Leute haben ja auch nicht solchen Fliegendreck auf ihren Scheiben wie du. Es klingt nach Vorwurf. Ich bin schuld, dass die Fliegen kommen. Vielleicht sollte ich stündlich putzen? Dann hätte Mutters Gutmeiner jetzt eine klare Chance. Aber du musst nicht mehr nachwischen. Sie wiederholt sich. Aber nur deshalb, weil sie so lange rubbeln muss mit dem neuen Tuch. Jetzt will sie sogar ein Schwämmchen. Ein raues. Sie schüttelt den Kopf. Missmut. Ich sehe es ihr an. Irgendwann ist sie fertig. Mit einem Fenster. Aber du musst nicht mehr nachwischen. Das trocknet von allein. Das gibt keine Streifen. Aber ich weiss es doch nun schon! Ging doch schnell – oder? Ihre Frage muss ich mit Ja beantworten. Der Freude wegen. Mutters Freude wegen. Es ging nicht schneller als vorher. Aber das ist keine Lüge. Wir lügen ja nie. Sprechen nur rituell.

Seid ihr endlich fertig? Mutters Lebensgefährte will heim. Aber Mutter will noch ein Fenster putzen. Eins mit weniger Fliegendreck. Nee, lass mal, ich mach das schnell. Sag ich. Aber Mutter ist nicht zu bremsen. Steht schon am zweiten Fenster. Ihr Lebensgefährte schüttelt nur den Kopf. Er weiß, wann der schweigen muss. Schweigt. Zwei Scheiben geputzt. Der Fliegendreck ist teilweise noch dran. Hier beim zweiten Fenster. Mutters Augen sind nicht mehr gut. In diesem Fall ist es günstig. Ich schaue geduldig darüber hinweg. Bin froh, wenn sie endlich geht. Da, wo der Fliegendreck weg ist, ist die Scheibe blitzeblank. Tatsächlich. Keine Zeitungen mehr. Kein Krach mehr abends wegen zu früh benutzter aktueller Tageszeitungen. Hin und wieder mal. Siehste Kind, ich bestell dir auch ein Tuch. Kostet zwanzig Mark.

Ich hab mich geirrt. Es war gar kein Gutmeiner. Sie wollte es mir nicht schenken. Nicht zwanzig Mark einfach mal so. Es war ein Gut-Zeiger. Wollte es mir nur mal vorführen. Zahlen muss ich selbst. Oder soll ich es dir zum Geburtstag schenken? Die Frage an mich ist ernst gemeint. Sie meint solche Fragen immer ernst. Toternst. Mein Geburtstag ist im September. Jetzt ist Mitte März. Nein, bestell es mir gleich. Ich bezahl es schon. Es ist ja wirklich toll. Und kein Nachwischen mehr. Komm, ich geb dir das Geld schon mit. Ach, ich hab’s nicht klein. Bestell es bei Gerlinde.

Hab ich doch gleich gesagt, jubiliert meine Mutter. Meine beiden Fenster sind ziemlich sauber. Nicht so ganz, aber immerhin dort, wo der Fliegendreck ohne Vorbehandlung wegging. Andere Stellen sind leicht verschmiert. Fröhlich und jungmädchenhaft verlässt meine Mutter das Haus. Mitte siebzig ist sie. Gut, dass ihre Töchter sie haben. Was würden sie nur ohne sie machen! Ohne ihren Rat. Bei Fliegendreck. Oder ihre Kuchen. Und die abgetragenen hässlichen Blusen der Nachbarin. Sie ist froh dass sie ist. Wir auch. Mögen ihre Verrücktheit, ihre Über- und Untertreibungen und all die schrecklichen Dinge, die sie aus Liebe zu uns anschleppt.

Den Rest der Fenster putze ich normal. Sie hat das Tuch ja wieder mitgenommen. Es gehört doch ihr. Von ihr bezahlt. Es ist noch kein Geburtstag. Raues Schwämmchen für den Fliegendreck, weiches für das normalverschmutzte Glas, Wasser, kein Spülmittel, Zeitung – alt oder neu, egal, Hauptsache: saugend! Für die Rahmen noch ein trockenes Tuch zum Nachwischen.

Mach endlich Schluss. Stöhnt mein Mann. Ich mache Schluss. Es ist Abend. Am Morgen lacht die Sonne. Ich habe nirgends Streifen. Nirgendwo. Aber winzige kleine Pünktchen. Nämlich dort, wo Mutters Gutmeiner putzte. Auf ihren zwei Scheiben. Zugegeben: Das Pünktchenwassertröpfchenmuster ist neu. Und unübersehbar. Und streifenfrei.

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