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»Hände hoch - oder ich schieße!« schrie Klaus, ein blondhaariger, sechsjähriger Junge in einem Cowboykostüm, der hinter einem kahlen Fliederbaum stand und mit seinem hölzernen Spielzeuggewehr auf ein als Hexe verkleidetes Mädchen zielte. Die schrullige Hexe wurde von Monika verkörpert. Das Gesicht des Mädchens war von einer Maske verdeckt, die lediglich die leuchtend blauen Augen freiließ; nur andeutungsweise lugte Monikas schwarzes Haar unter einem roten Kopftuch hervor. Sie tat, wie ihr befohlen und streckte artig ihre Arme in die Höhe. Klaus drehte sich ein wenig nach rechts. »Los! Du auch!« rief er Petra zu, die als Squaw verkleidet war. Petras Verkleidung passte wenigstens zu ihrem Spiel, ganz im Gegensatz zu Monikas Maskerade. Aber besser ein Hexenkostüm als gar keines, fand Klaus. Mit ein wenig Fantasie wurde aus der Hexe mit ihrer runzeligen Maske eine Indianergreisin, und dann stimmte alles wieder. Monika war mit acht Jahren ohnehin die Älteste, drei Jahre älter als die kleine Petra, deren langes, blondes Haar zu zwei Zöpfen geflochten war. Holger betrat den kleinen, dunklen Innenhof, in dem die drei Kinder an diesem trüben Februarnachmittag mit ihrem Indianerspiel beschäftigt war und der von mehrstöckigen Wohnhäusern umringt war. Es war jene Art Häuser, die nach dem letzten Krieg, der die Stadt fast völlig zerstört hatte, eiligst gebaut worden waren, um der Wohnungsnot Herr zu werden. Ihre einstmals beige gestrichenen Fassaden waren mittlerweile schmutzig-grau; lediglich der Rasen, auf dem die Kinder spielten, stellte einen Farbklecks in der tristen Umgebung dar. Der Fliederbaum am Rande der Wiese, der im Frühling stets wunderschön dunkelviolett blühte und einen betörenden Duft verströmte, war zu dieser Jahreszeit noch völlig kahl. Ein scheues Lächeln umspielte Holgers blasse Lippen, als er zu den anderen ging. Im Gegensatz zu ihnen trug er kein Kostüm. »Darf ich mitmachen?« fragte er, die drei hoffnungsvoll mit seinen wasserblauen Augen anstrahlend. Er fühlte sich noch ein wenig fremd hier; vor vier Wochen erst hatten seine Eltern die neue Wohnung bezogen. Klaus betrachtete ihn abschätzend. »Ohne eine Verkleidung geht das aber nicht! Wie sieht das denn aus?« brummte er. »Ja, genau, besorg dir erst mal ein Kostüm!« rief Petra. »Sonst kannst du nicht mitspielen.« Holgers Lächeln verwandelte sich rasch in völlige Niedergeschlagenheit. Traurig und ratlos schaute er zu Boden und betrachtete das zertrampelte Gras. »Hast du denn keins?« fragte Monika mit einer Mischung aus Erstaunen und ein wenig Mitleid. Betrübt schüttelte Holger den Kopf. »Geh doch zu deiner Mutter und frag sie. Bestimmt kauft sie dir eins. Im Es-Be haben sie ganz tolle bunte Masken, das reicht doch fast schon.« Es-Be war der Supermarkt, der sich nur drei Straßen weiter befand und inzwischen auch den letzten kleinen Lebensmittelladen in der näheren Umgebung verdrängt hatte. Holger fand die Idee einleuchtend und lief eilig ins Gebäude. Im Treppenhaus, dessen Putz Risse aufwies und der stellenweise abblätterte, nahm er immer zwei bis drei Stufen auf einmal. Seine Eltern wohnten im dritten Stock. Oben angekommen klingelte er ungeduldig an der Wohnungstür. Sie wurde von Holgers Mutter geöffnet, einer ziemlich mageren und etwas mürrisch dreinblickenden jungen Frau. »Was machst du denn schon wieder hier?« rief sie erbost und strich sich ein wenig schläfrig durch das leicht fettig glänzende, glatte, rotblonde Haar. »Du bist doch eben erst hinausgegangen.« Holger war ein wenig außer Atem. »Mutti, ich brauche unbedingt ein Kostüm, sonst kann ich nicht mit Klaus und den anderen spielen«, schluchzte er verzweifelt. »Bitte kauf mir eins. Die anderen Kinder sind auch alle verkleidet. »Du weißt doch, dass das im Moment nicht drin ist«, herrschte die Mutter ihn an, und ihr Ton war dabei wesentlich barscher, als es beabsichtigt war. Sie war - wie gesagt - noch jung, vielleicht zu jung. »Der Umzug hat sehr viel Geld gekostet, und du kommst bald in die Schule. Außerdem waren wir doch gestern in Köln und haben uns am Dom den Rosenmontagszug angeschaut.« Der gestrige Tag war Holger in keiner besonders guten Erinnerung geblieben. Es war ziemlich kalt gewesen, er hatte keines von den Bonbons erhaschen können, die aus den zahlreichen bunten Wagen geworfen wurden, dafür hatte er zu weit abseits gestanden. Sein Vater hatte im Laufe des Tages ziemlich viel getrunken, und am Abend, als Holger schon in seinem Bett lag, war es wegen des übermäßigen Alkoholkonsums zu einem Streit zwischen seinen Eltern gekommen. Lange noch hatte er wach gelegen und an den Fliederbaum unten auf der Wiese gedacht. »Wir müssen sparen!«, fuhr seine Mutter fort, »also geh jetzt wieder raus. Sie werden dich schon mitspielen lassen. Aber lass mich bitte in Ruhe, ich muss mich wenigstens eine Stunde lang ausruhen, hörst du?« Sie schloss daraufhin die Tür, lauter als es nötig war, und Holger trottete traurig die Treppe zum Hof hinunter. Tränen rannen über seine Wangen, doch er wischte sie trotzig weg und setzte sich unter den kahlen Fliederbaum, wo er den anderen verstohlen zuschaute. Die drei unterbrachen ihr Indianerspiel und schauten ihn durchdringend an. Holger spürte ihre Blicke wie kalte Pfeilspitzen. Monika löste sich aus der Gruppe und ging auf ihn zu. »Und? Was hat sie gesagt?« fragte sie neugierig. »Hast du nichts erreichen können?« »Nein«, antwortete Holger leise und schaute verlegen an ihr vorbei. Er schämte sich und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie ihn in Ruhe ließen. »Deine Mutter hätte dir aber auch wirklich etwas selbst nähen können«, meinte Monika. »Schau dir Petras Kostüm an, das hat ihre Mutter auch selbst gemacht.« »Wir haben doch keine Nähmaschine«, erwiderte Holger verlegen. Dieser Einwand war nur vorgeschoben. Seine Mutter war in Handarbeiten recht ungeschickt, und sicher wäre es ihr auch zu lästig gewesen. Sie hatte nur wenig Zeit für ihn. Nachmittags zog sie es vor, sich regelmäßig die Sei-fenopern und die Spielshows im Fernsehen anzuschauen. Aber das wollte Holger den Kindern nicht erzählen. Er hatte schnell gelernt, dass es in seiner Familie Dinge und Vorfälle gab, die nicht dazu geeignet waren, an die Öffentlichkeit getragen zu werden. »Ich werde mal zu deiner Mutter raufgehen«, beschloss Monika. Rasch drehte sie sich um und rannte ins Haus. Holger lief aufgeschreckt hinter ihr her. »Nein, tu das nicht«, rief er mit zitternder Stimme. »Sie will jetzt nicht gestört werden.« Doch Monika war bereits oben angelangt und hatte schon den Knopf der Türklingel gedrückt. Ängstlich versteckte sich Holger unter der Treppe. Die Tür wurde abermals geöffnet. Holger schnappte nur einzelne Satzteile auf. »Nein, das geht wirklich nicht... ich habe das Holger schon erklärt.« Bald fiel die Tür wieder laut ins Schloss, und Monika kam die Treppe herunter. »Dann kann ich dir leider auch nicht helfen. Ohne ein Kostüm kannst du jedenfalls nicht mitspielen«, sagte sie schnippisch zu Holger. Während die anderen mit ihrem Spiel fortfuhren, schlurfte Holger niedergeschlagen zu dem Fliederbaum. Wenn man genau hinsah, waren hie und da doch schon winzige Blattknospen zu erkennen. Oben im Haus wurde ein Fenster geöffnet. Holgers Mutter schaute hinaus. »Holger!« rief sie schrill in den Hof hinunter, und ihre ärgerlich klingende Stimme hallte von den rauen Wänden wider. »Kommst du bitte mal kurz rauf?!« Erneut musste Holger durch das triste Treppenhaus hinaufgehen; diesmal jedoch betrat er Stufe für Stufe. Oben wartete schon ungeduldig seine Mutter. Als er die Tür erreichte, packte sie ihn hart am Arm, zog ihn in die Wohnung hinein und schloss die Tür. »Es hat keinen Sinn, wenn du deine Freunde hier heraufschickst. Ich habe dir doch erklärt, dass ich dir kein Karnevalskostüm kaufen kann. Sorg bitte dafür, dass die nicht mehr hier klingeln, ich will jetzt endlich meine Ruhe haben. Sonst bleibst du drinnen! Hast du mich verstanden?« Holger nickte traurig und ging mit hängenden Schultern wieder hinunter zu dem Fliederbaum. Er lehnte sich an den Stamm und schaute in den bewölkten, grauen Himmel. Nur undeutlich und dumpf drangen die Stimmen der anderen Kinder in Holgers Bewusstsein, ebenso wie ihre Bewegungen, die ihm zeitlupenhaft erschienen. Die kahlen Äste des Baumes, die sich vor seinen von Tränen verschleierten Blick schoben, waren verschwommen und wirkten wie ein dunkles, unregelmäßiges Gitter vor dem fernen Firmament. |
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