Eiskalt

von Wolfgang Tischer

Die Nacht war kalt. Der Raureif reflektierte das Licht des Mondes. Klare Luft. Zunehmender Mond. Ein Himmel mit Millionen von Sternen.
     Die Scheinwerfer des Autos wären bereits seit geraumer Zeit zu erkennen gewesen, noch bevor das eintönige Brummen des Motors zu vernehmen gewesen wäre. Doch hier draußen befand sich niemand, der dies hätte sehen oder hören können.
     Lautlos schleuderte der Wagen in der Kurve. Die Fahrbahn war zu vereist, als dass die durch die Bremse blockieren Rädern ein Quietschen verursacht hätten.
     Das Auto kippte nach rechts die Böschung hinunter.
     Die ersten lauten Töne waren zu hören, als sich das Fahrzeug mehrmals überschlug. Der kurze Schrei davor war fast unhörbar, drang aus dem Innenraum kaum hinaus.
     Das Geräusch des Krachens und Splitterns dauerte nicht lang. Für kurze Zeit hätte man hören können, wie sich ein drehender Reifen an verbogenem Blech rieb.
     Dann war alles still. Und die Nacht schön wie zuvor.

Der gefrorenen Leichnam, den der Fahrer des Milchwagens entdeckt hatte, konnte von den Feuerwehrleuten nicht aus dem völlig zerstörten Auto entfernt werden. Die eisstarren Beine und der eisenstarre Motor waren nahezu miteinander verbunden.
     Zum Auftauen wurde das Fahrzeug in die Garage der örtlichen freiwilligen Feuerwehr gebracht. Das Tor wurde verschlossen. Dennoch war es hier kalt, aber der Gefrierpunkt war überschritten. Der anwesende Arzt veranschlagte mindestens zwölf Stunden Auftauzeit und dachte kurzzeitig an die Mikrowelle seiner Frau.

Der Feuerwehrmann, der seine skatspielenden Kollegen mitten in der Nacht verließ, um hinunter in die Garage zu gehen, fand die Überreste des Unfallwagens zunächst leer vor. Einige Meter entfernt saß die Leiche vor der verschlossenen Garagentür. In der kondensierten Luft an der Scheibe der Garagentür war das Wort »Hilfe« zu lesen. In Spiegelschrift. Alle Achtung, dachte der Feuerwehrmann, dem das mitgenommene Skatblatt aus der Hand fiel.

Die drei Feuerwehrmänner nickten sich stumm zu, als der Arzt, den sie gerufen hatten und dem sie berichtet hatten, dass sie die Leiche erfolgreich bergen konnten, den Totenschein ausstellte.

 

© 1996 by Wolfgang Tischer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.


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