Margitta Bieker Das Abwasser läuft in die Wand Der Versuch einer Rettung Samstagnachmittag. Es herrscht Ruhe auf der Intensivstation des kleinen Krankenhauses mitten in einer Stadt im Sauerland. Zumindest im Moment noch. Die Krankenschwester, die in der kleinen Teeküche vor ihrem Kaffee sitzt, überlegt noch, wie dieser Nachmittag in der Vorweihnachtszeit möglichst gemütlich zu verbringen ist. Sie entschließt sich, ein Stück Christstollen zu versuchen, bevor er schlecht wird, und ein wenig in der Zeitung zu blättern. Ihre Kolleginnen sind noch bei Patienten beschäftigt. Es sind dies zwei an diesem Nachmittag. Eine Krankenpflegeschülerin im zweiten Ausbildungsjahr, die häufig noch mit großen Augen umher sieht. Glaubte sie doch, dass Intensivpflege immer dramatisch und mit allem Einsatz der verfügbaren Kräfte verläuft. Nun sieht sie, dass es eigentlich ein Hightechaltenheim darstellt und fast alle Patienten über 80 Jahre alt sind. Sie leiden fast alle an ihrem alten Herzen. Und es wird nur alles Erdenkliche getan, um dieses Herz wieder belastungsfähig zu therapieren, das heißt, so lange jedes Körperwasser zu entziehen, welches den alten Motor belastet. Sie bekommen wenig zu trinken, so wenig, dass sie träumen, in einer Wüste zu sein. Allerdings - der Tod wird hier nicht gern gesehen, und, solange es geht, wieder weggeschickt. Die andere Krankenschwester ist so erfahren wie ihre Kollegin in der Küche. Sie hat in Berlin schon echte Fixer und Aids-Patienten gepflegt. Jetzt ist sie hier, weil auch ihr Freund hier ist. Lieber wäre sie in Berlin. Die Schwester in der Küche wäre gerne Ärztin geworden. Aber da sie kein Abitur hat, kann sie natürlich nicht Medizin studieren. Doch von ihrer langen Erfahrung profitieren gerade die jungen Weißkittel des öfteren. Sie mussten im Studium so viele überflüssige Dinge im Multiple-Choice-Rate-Verfahren lernen, dass sie schon mal das Wesentliche übersehen und für ein paar Tipps zur Diagnose und Therapie von einer routinierten Schwester dankbar sind. Jetzt scheint sich den Geräuschen vom Flur her Arbeit anzubahnen. Seufzend nimmt die Routinierte im blauen Einheitsdress die Füße vom Stuhl, faltet die Zeitung zusammen, erhebt sich resigniert und sieht vorsichtig um die Ecke. Es sieht nicht gut aus. Nein, eigentlich macht es einen höchst seltsamen Eindruck. Eine Gruppe Weißgekleideter schiebt eine Trage mit einem Patienten vor sich her, der alarmierende Geräusche von sich gibt, sie klingen wie: »Luft, bitte alle Luft zu mir!« Die Dienst habende Ärztin der Inneren und Geriatrie schiebt am Kopfende, ein Rettungsassistent zieht am Fußende, und dazwischen läuft ein Mann in ziviler Kleidung, der Fachchinesisch murmelt. Das könnte der Hausarzt sein. Ist er auch. AHA! Nun stehen sie alle ratlos und mit fragenden Blicken vor der Schwester, der der Mund vor Staunen und Entsetzen offen steht. Es ist nicht nur wegen des Patienten, der außer den schrecklich stöhnenden Geräuschen auch noch einen penetranten Geruch verbreitet und in seinem Blute schwimmt. Es ist auch, weil kein Anruf von der Pforte die Notfallaufnahme angekündigt hat. Das ist ziemlich oft der Fall, dennoch - man rechnet nicht damit. Echte Notfälle kündigt man nicht an, sie verlangen Improvisation und Intuition des Personals! »Was ist denn das?« fragt die Schwester, Panik in den blauen Augen. »Selbstmord mit Messerstichen und Pflanzenschutzmittel«, sagt die Ärztin, sonst sehr redegewandt, die aber in Notfällen gerade mal das Notwendigste hervor bringt. »Anne!!« Die entsetzte Schwester ruft ihre Kolleginnen um Hilfe, die gemeinsam mit den Sanitätern den Patienten in ein Bett legen, möglichst ohne es zu verschmutzen, was leider nicht gelingt. Ein weißes Bett ist die Visitenkarte jeder Krankenschwester, auch von den Pflegern, die Kanten sind rechtwinklig und halten jeden Vergleich mittels Geodreieck stand. Mit vereinten Kräften wird nun versucht, die stinkende Kleidung des Patienten zu entfernen. Sie wird sofort luftdicht eingetütet. Es verbreitet sich ein infernalischer Gestank aus Kot, Urin und Blut mit Pflanzenschutzmittel. Angesichts des nahenden Todes hat der Körper dieses Unglücklichen alle Schleusen geöffnet, um das Gift wieder los zu werden. Von der DGHS, der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben, wurde zu Herrn Atrotts Zeiten den Selbstmordkandidaten empfohlen, Zyankali erst nach dem Entleeren von Darm und Blase zu schlucken, um die Entsorger der sterblichen Hülle nicht mit vollen Hosen zu empfangen. Die DGHS gibt es nun in dieser Version nicht mehr und Herr Atrott musste in den Knast. Mit dem Zyankali hatte er zu viel Geld verdient und keiner an seine humane Weltsicht mehr glauben wollen. Gleich wie - dieser Patient hatte das nicht gelesen. Die Schwestern fangen mit der Säuberung an, die Ärzte unterhalten sich über die mögliche Motivation dieses Suizidversuchs. »Ich hatte ihm ein Antidepressivum verschrieben, aber dass er wirklich aufs Ganze gehen könnte, das habe ich nicht für möglich gehalten«, sagt der Hausarzt. »In die Psychiatrie wollte er nicht, und die Angehörigen lehnten das auch ab. Die wollten ihn nicht in die Ballerburg stecken.« Nun - jetzt führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass dieser Mensch sehr krank sein muss, denn wer schluckt E 605 und rammt sich danach noch ein Messer zweimal in den Bauch? Der Routinierten wird es allmählich zu bunt. Stehen diese Akademiker immer noch herum und führen eine Diskussion über Motiv, Familie und was sonst noch! Wenn jetzt nicht etwas passiert, können sie gleich den Totenschein ausstellen! »Wie wäre es denn mit einem Zugang in eine Vene? Ich meine, falls uns der Blutdruck abschmiert?!« Sie streift angeekelt die Handschuhe ab, und zieht gleich neue über, nebst Kittel und Mundschutz. Vergiftete mit E 605 gefährden ihre Retter gleichfalls, weil es ein Kontaktgift ist und über Haut und Schleimhäute aufgenommen wird. Der Vorschlag wird sofort aufgenommen und bringt die Unterhaltung der beiden Ärzte zum Erliegen. Gleichzeitig verabschiedet sich der Hausarzt, schließlich sind hier die Profis zuständig. Einen Zugang in eine Vene oder Arterie zu legen, ist fast die wichtigste Handlung auf einer Intensivstation. Sie kommt gleich nach der Intubation, dem Legen eines Schlauches in die Luftröhre zum Freihalten der Atemwege und Möglichkeit der künstlichen Beatmung. Diese wird allerdings nur von den Anästhesisten, die auch richtige Ärzte sind, wirklich traumhaft sicher beherrscht. Dieser Patient hat schon diesen Schlauch in der Luftröhre, der Hausarzt hat ihn gelegt, was wirklich sehr selten vorkommt. Doch - über so ein Rohr atmen zu müssen, kommt einem Schnorcheltaucher gleich. Jeder, der einmal getaucht ist, weiß, wie anstrengend das ist. Endlich! Der Zugang liegt und funktioniert sogar auf Anhieb. Alle atmen erst mal auf. Was macht der Patient? Ob er sich was denkt, ob er überhaupt etwas mit bekommt, ist nicht zu erraten. Er ist nicht ansprechbar und eigentlich sehr mit Atmen beschäftigt, was ihm große Mühe zu bereiten scheint. Wahrscheinlich aber ist, dass er sich nicht unbedingt freut, dass er nun gerettet werden soll. Die Routinierte quengelt weiter. »Der Chirurg muss kommen!« Das hört nun die Ärztin der Inneren gar nicht gerne. Chirurgen und Internisten mögen einander nicht, jeder denkt vom anderen, er sei eigentlich überflüssig. »Wieso? Die Stiche sind nicht tief, das ist alles nur oberflächlich!« Die Schwester fragt sich, woher die Ärztin das weiß. Hat sie Röntgenaugen? »Trotzdem muss er kommen. Es kann in den Bauch bluten und der Blutdruck ist noch immer nicht stabil!« Eigensinnig beharrt sie auf ihrer Forderung. Sie ist daran gewöhnt, Ärzte überreden zu müssen. Die andere Schwester, die schon Aids-Kranke gepflegt hat und eher die Stille ist, läuft zum Telefon, um die Diskussion abzukürzen. Und - da sie schon mal telefoniert - ruft sie auch gleich den Anästhesisten, den Fachmann für Luftröhrenschläuche. Dieser hält gerade einen verlängerten Mittagsschlaf, weil er die letzte Nacht ständig in den Kreißsaal gerufen wurde. Es dauert etwas, bis er verstanden hat, um was es geht und reagiert ein wenig brummig. Doch er will sofort kommen. Den Narkosearzt hat es in der Ärztehierarchie am schlechtesten getroffen. Zum einen, weil die Anästhesie im Vergleich zur Chirurgie noch ein junges Fachgebiet ist, zum anderen, weil sie so abhängig von den Chirurgen sind. Und der Chirurg ist einfach unersätzlich, und wozu brauchte man Narkoseärzte, wenn es keine Chirurgen gäbe, die operieren? Vielleicht noch in der Geburtshilfe, aber alternative Hebammen lehnen Schmerzbekämpfung unter der natürlichen Geburt ab, außerdem gibt es Gynäkologen, die die Peridural-Anästhsie, die rückenmarksnahe Schmerzbekämpfung, ebenfalls beherrschen. Aber auf einer Intensivstation sind sie nicht zu entbehren. Nicht ausschließlich wegen ihres Geschicks beim Intubieren, sondern weil sie sich als einzige Fachdisziplin mit den komplizierten Geräten zur Beatmung auskennen. Das sind die Geräte, die in schwierigen Einstellungen an vielen Knöpfen die Patienten an der eigenen Atmung hindern. Nun sind drei Ärzte anwesend. Sie stecken ihre Köpfe in ihrer Ratlosigkeit zusammen und bringen die Schwester erneut zur Verzweiflung. Denn nun wird diskutiert, wessen Patient es eigentlich ist. Schließlich hat er Gift genommen, damit gehört der den Internisten, die sich darauf verstehen, dieses Gift wieder aus ihm heraus zu bekommen. Aber - er hat zwei Messerstiche in der Magengegend, zwei Spardosenschlitze im linken oberen Quadranten, und somit gehört er den Chirurgen. Der Schlauch in der Luftröhre, nun, für diesen ist der Anästhesist zuständig, der sich nun auch der Atmung zuwendet und die Lunge des Patienten abhört. »Wie wäre es mit einem Ultraschall, um zu sehen, ob freie Flüssigkeit im Bauch ist?« Jetzt wendet sich die Quengelschwester aufmunternd an den Chirurgen. Der hält das für eine gute Idee und will sein eigenes Gerät holen, denn mit dem anderen kennt er sich nicht aus. Immerhin - er geht selbst. Sehr gut. Die Stille nimmt Blut ab. »Für die Blutgruppe«, sagt sie. Der Narkosearzt hat den Blutdruck mit einer Infusion beschwichtigt. »Ich denke, ich rufe mal meinen 'Hintergrund' an«, sagt die Ärztin. Der 'Hintergrund' ist der wichtigste Mensch. Aber im Hintergrund. Er ist selten da, hat aber ungeheure Macht, sein Einfluss ist ständig zu spüren. Am deutlichsten wird die Situation, wenn der 'Vordergrund', der Assistent, abends, wenn der Hintergrund nicht noch Golf spielen muss, oder spätestens am nächsten Morgen, bei der Visite erklären darf, warum er dieses tat oder jenes ließ. Häufig hat der 'Hintergrund' dann eine ganz andere Meinung, und die ist fast immer richtig. Während die Ärztin noch die Konsequenzen ihrer zukünftigen beruflichen Karriere überdenkt, wenn sie ihren 'Hintergrund' jetzt beim Golfen stört, kommt der chirurgische Assistent mit wehendem Kittel und dem fahrbaren Ultraschallgerät zurück und verkündet optimistisch, dass er seinen 'Hintergrund' bereits angerufen habe, weil er selbst erst seit zwei Monaten in der Chirurgie sei, und die Angelegenheit ihm viel zu haarig erscheint. Der Oberarzt sei schon unterwegs. Doch mit dem Ultraschallgerät kann er umgehen, und er findet keinen Anhalt für freie Flüssigkeit in der Bauchhöhle, was zunächst ein gutes Zeichen ist. Alle atmen zum zweiten Mal an diesem Nachmittag auf. Der Blutdruck ist immer noch stabil, das hat der Anästhesist geschafft, der nun zum ersten Mal versucht, mit dem Patienten Kontakt aufzunehmen. Aber dieser gibt nicht zu erkennen, ob er überhaupt etwas versteht. Er liegt schlaff und bewegungslos, und seine Atmung unterstützt nun eine Maschine. »Haben Sie Schmerzen?« Keine Reaktion. Er bekommt dennoch ein Schmerzmittel. Messerstiche tun bestimmt weh. Die Ärztin untersucht mit einem ungefährlichen Hämmerchen die Reflexe an den Beinen. »Mein Gott, was ist das bloß?« fragt sie, und deutet auf die zahlreichen roten Flecke, mit denen der Patient übersät ist. »Schuppenflechte«, sagt die Quengelschwester. »Sieht ja schlimm aus, richtig furchtbar.« Etwas angeekelt wendet sich die Ärztin ab. Fast könnte man glauben, allein wegen der Schuppenflechte lohne es sich, Gift zu schlucken, Der chirurgische Oberarzt kommt herein. Das ist der Moment, wenn der 'Hintergrund' in den Vordergrund tritt. Alle kennen ihn als einen Mann der schnellen Entscheidung und Tat. Auch sein Kittel weht hinter ihm her, immer der Pflicht auf dem Fuße folgend. »Was ist denn los, Kinders?« Seine souveräne Stimme mit dem kölschen Dialekt verbreitet Optimismus, seine Art, jeden zu duzen, schafft Vertrauen und Zugehörigkeitsgefühl. Einem Kölner nimmt die Duzerei auch keiner übel, aber den ausländischen Patienten schon. Die sollen doch gefälligst lernen, dass ein Deutscher gesiezt werden will. »Suizidversuch mit E 605 und zwei Messerstichen«, berichtet kurz und knapp die Ärztin der Inneren. Der Oberarzt ist kein Mann für lange Reden, wenn andere sie halten. »Konnte sich das Arschloch nicht für eine Methode entscheiden?« Das klingt wahrhaftig erzürnt. Er liebt es, drastische Worte zu verwenden. Das verschafft den nötigen Respekt und man wird immer verstanden. »Also, das war dem an sich ernst mit dem Sterben, oder wie? Jetzt sag' mir mal einer, was ist denn jetzt wichtiger? Ist er vital schlecht drauf? Sollen wir erst mal dem Bauch ne' Wundversorgung zukommen lassen oder wie schlimm ist dieses Gift, was der gesoffen hat?« Das sind jetzt zu viele Fragen auf einmal. Und der Oberarzt ist nicht der Geduldigste, wie fast alle Genossen dieses Handwerks. Hämischerweise wird er auch der 'Reziproke' genannt. Seine Geistesgröße und sein handwerkliches Können sind umgekehrt proportional zu seiner Körpergröße von 1,75 Meter. Aber die dieses behaupten, sind sicher nur neidisch. »Ich kann ihm den Magen nicht so ohne weiteres spülen, weil er perforiert sein könnte«, sagt die Ärztin der Inneren. »Also gut, dann auf den Tisch des Hauses mit ihm. Kann ich mal eine sterile Schere haben?« fragt der Reziproke. Die Schwester, die noch nicht so viel gesagt hat, reicht ihm eine, die er sogleich in einen der Schlitze im linken oberen Quadranten versenkt. Und zwar bis zum Griff, was alle geräuschvoll einatmen lässt. Das scheint dem Patienten nicht weh zu tun, denn er verzieht keine Miene. Die Ärztin sieht sehr erstaunt aus. Ist der Stich doch tiefer, als sie glaubte. Internisten wissen eben viel, auch von den Dingen, von denen sie keine Ahnung haben. »Das ist ganz schön tief«, sagt der Chirurg. »Und was hat der überall für Flecken? Ist das von dem Gift?« »Schuppenflechte«, sagt die Ärztin. Es klingt überzeugend. Internisten lernen schnell. »Ist ja ekelhaft, wie das aussieht, mein Gott noch mal!« Die Schwestern sind erleichtert, als der Patient in den Operationssaal geschoben wird. Sie können erst mal aufräumen und eine Zigarette rauchen. Der Anästhesist hat seinen 'Hintergrund' auch schon informiert, weil der Chirurg eine kompetente Narkose erwartet. Da ist der Assistent ganz blass geworden und hat erschrocken nachgefragt. »Ja sicher brauche ich eine Narkose, oder soll ich ihm den Bauch so aufschneiden? Die Zeiten sind ja gottseidank vorbei!« Sprachs und eilte davon, die zarten Chirurgenhände waschen. Er, der Reziproke. Die Schwestern sitzen in der Teeküche und rauchen eine Stresszigarette. »Sind da eigentlich auch Angehörige mit gekommen?« fragt die Quengelschwester. »Vielleicht wollen die mal was wissen?« Die Ärztin der Inneren seufzt auf, erhebt sich und geht zum Besucherzimmer der Intensivstation. Jenes Zimmer, in welchem genauso oft gelitten wird wie in den Patientenzimmern, nur anders, schlimmer. Zur Hilflosigkeit verdammt. Dort sitzen in gespannter Erwartung die Ehefrau und die beiden Töchter des Patienten. Als sich die Tür öffnet, springen alle drei gleichzeitig auf. Keiner sagt zunächst etwas. »Sind Sie die Ehefrau?« Nicken. Heftiges. »Ihr Mann ist jetzt im Operationssaal. Die Chirurgen müssen seine Bauchwunden versorgen. Der Kreislauf ist derzeit stabil, aber was das Gift angeht, was er getrunken hat, haben wir noch nichts unternehmen können. Erzählen Sie mir doch mal, wie sich das alles abgespielt hat, ja?« »Ich kam vom Einkaufen heim.« Die Frau klingt sehr gefasst, als ob sie gar nicht innerlich beteiligt wäre. »Und dummerweise hatte ich meinen Schlüssel vergessen, deshalb musste ich schellen, und es dauerte sehr lange, bis mein Mann die Tür öffnete.« »Moment. Wollen Sie sagen, er hat Ihnen in seinem Zustand auch noch die Tür auf gemacht??« Die Ärztin haucht die Frage hin, zu mehr reicht es nicht mehr. Das klingt ja nach Hitchcock-Film! »Ja, sage ich doch! Ich hatte keinen Schlüssel. Also hat mir mein Mann die Tür geöffnet.« »Natürlich.« Die Ärztin fragt sich, ob diese Frau einfach nur dumm ist oder sich dumm stellt, angesichts dieser Tragik, die sich alptraumartig vor dieser Familie aufgetan hat. Die eine Tochter, wahrscheinlich um die vierzig Jahre alt wird sie sein, hat sich zum Fenster abgewendet, ihr Gesicht in den Händen, die Schultern beben. »Und dann fand ich im Schlafzimmer den Abschiedsbrief. Sie glauben ja nicht, wie das da ausgesehen hat! Alles voll Blut und Kotze! Und ich muss das jetzt weg machen! Das wird eine Menge Arbeit, wirklich. Hier, lesen Sie...!« Die Ärztin nimmt mit spitzen Fingern den Zettel entgegen, einen abgerissenen aus einem Schulheft, holt vorsichtshalber tief Luft. »Das Abwasser läuft in die Wand. Ich kann nicht mehr. Herbert.« »Welches Abwasser?« »Tja,« verlegen lächelt die Frau. »Das weiß ich auch nicht so genau. Um die Reparaturen hat sich immer mein Mann gekümmert, aber in letzter Zeit saß er fast den ganzen Tag im Sessel, hat in die Wand gestiert und dort Geräusche gehört, die sonst keiner bemerkt hat. Unser Hausarzt hat ihm Tabletten verschrieben, dann machte er eigentlich immer, was ich sagte, aber besser ist es eigentlich nicht geworden. Er kommt doch wieder in Ordnung, nicht wahr? ...Frau Doktor? ...Sie werden ihm doch helfen können?« Diese Frage stellt sie lächelnd, nichts von dem Drama scheint an sie heran zu kommen. »Wie alt ist Ihr Mann?« »63. Warum?« »Nun, wir können jetzt noch gar nichts sagen. Ihr Mann wollte mit Sicherheit sterben, sonst hätte er nicht zu diesen Mitteln gegriffen! Aber dann öffnet er Ihnen auch noch die Tür, so, als wollte er entdeckt werden und Hilfe bekommen. Das, denke ich, ist ein einziger Hilfeschrei! Es kann durchaus sein, dass die Vergiftung mit E 605 ihn das Leben kostet und wir ihm nicht helfen können. Und wenn er überlebt, muss er in die Psychiatrie. Er muss unbedingt in richtige Therapie!« »In die Psychiatrie? Nein! Niemals! Da gehen nur die Bekloppten und Gemeingefährlichen rein, aber nicht mein Herbert, das lasse ich niemals....« »Mutter!« Die Tochter schreit plötzlich. Sie fasst die Frau mit beiden Händen an ihren Schultern, schüttelt sie. »Halte endlich die Schnauze, das ist ja nicht zu ertragen!!« Die Ärztin flüchtet. »Regeln Sie das erst mal unter sich!« Die Tochter hat Recht. Der Dummstellreflex dieser Ehefrau ist nicht auszuhalten. Nur Abstand von diesen Verrückten! Hat der Patient sich deshalb das Messer in den Bauch gerammt, nur um die Wand, die randvoll ist, endlich aufzubrechen? Das Abwasser läuft in die Wand. Vielleicht kann man sie ja noch trocken legen, die Wand. In der Psychiatrie. Die das Wasser dann auf die Giftigkeit für die Umwelt untersucht. »Wie war's?« fragt die Quengelschwester, als die Ärztin in der Küche auftaucht und nach den Zigaretten fingert. »Abwasser, nichts als Abwasser. Ich glaube, wir haben wirklich den schönsten Beruf, den wir uns wünschen können!« Dann lacht sie plötzlich. Sie lacht, bis ihr die Tränen in die Augen treten. Als sie drei Augenpaare zweifelnd anstarren, bricht sie ab. »Sie-scheint-dringend-mal-frei-haben-zu-müssen« sagen diese Blicke. »Tatsächlich? Da habe ich noch nie drüber nachgedacht«, sagt die Quengelschwester. »Du?« fragt sie ihre stille Kollegin. »Hm.« Sie zieht an ihrer Zigarette. »Es ist immer wieder spannend, dabei zu sein. Aber einen tieferen Sinn...nein, den sehe ich da nicht.« Die Ärztin lacht wieder. »Gibt es heute keinen Kuchen?« fragt sie. _______ Lesen Sie von der gleichen Autorin: Eine Summe von Stunden |