Weihnachtsgaben zu Ostern? - Ulrich Struve über Strandgut von Weihnachten

Ich möchte noch einmal kurz von den Büchern berichten, die im Dezember bei mir unterm Weihnachtsbaum lagen. Endlich habe ich sie lesen können! Manchmal fehlt einfach die Muße zur Lektüre, und da kann sich das schon ein wenig hinziehen, bis die Notizen beieinander sind.
Jesus - (c) Barry Moser     Eigentlich war die Bücherausbeute dieses Jahr eher mager. Dafür landete ein Stapel CDs unterm Weihnachtsbaum, der der Erweiterung des persönlichen Musikhorizonts durchaus dienlich war. Neben der Unauthorized Biografy of Reinhold Messner von den fabelhaften Ben Folds Five, Liederschmieden erster Güte, gab's einen ganzen Stoß obskurer Aufnahmen, die wohl aus irgendeinem Krabbelkorb gefischt worden sind: kanadische Barden mit reichlich Akkordeon und rauer Stimme in ad vielle que pourra; Tanzmusik aus Simbabwe und Madagaskar - einfach fetzig, es juckt einem gleich der große Zeh; und eine Aufnahme von Hassan Hakmoun, der auf dem Cover mit exotistischen Vorstellungen spielt und einen Glatzköpfigen im leopardengemusterten Lendenschurz seinen Kopf in den Rachen eines Krokodils stecken lässt... Wie gesagt, Musik gab's reichlich. Aber ich beschwere mich gar nicht, so lernt man mal was Neues kennen. Und ein paar Bücher tauchten schließlich doch auf.
Verkündung - (c) Barry Moser      Zur Bettlektüre für die Ferien zwischen den Jahren suchte ich mir gleich erst einmal Grimms Märchen und Deutsche Sagen aus, die Heinz Rölleke für den Klassiker-Verlag ediert hat. Durch sorgfältige Kommentare und Register erschlossen, ist diese hervorragende Ausgabe nun auch in einer erschwinglichen Sonderausgabe zu haben. Neben dem Vergnügen, die Bekanntschaft mit lange vertrauten Texten zu erneuern und sich von Texten überraschen zu lassen, die nur vertraut schienen, ist hier besonders erfreulich, dass die originalen Anmerkungen der Gebrüder Grimm enthalten sind. Eine runde Sache.
      Ein Freund meinte, es seit höchste Zeit, eine Lücke auf meiner Lektüreliste zu schließen und schickte mir Bernhard Schlinks Vorleser. Recht gehabt hat er, es war allerhöchste Zeit. Was für ein fesselnder Roman! Diese verquere und von unterschwelliger Grausamkeit gezeichnete Liebesgeschichte zwischen einem Pennäler und einer älteren, oft reizbaren und stets undurchschaubaren Frau sollte man sich nicht entgehen lassen. Eines Tages verschwindet Hanna, »die Frau«, aus dem Leben des Jungen - bis er sie im Gerichtssaal wieder sieht als Angeklagte in einem KZ-Prozeß. Und damit rollt sich für den Erzähler die Geschichte seiner ersten Liebe unter neuen Gesichtspunkten abermals auf, bohrende Fragen der historischen Verantwortung und Mitschuld, Fragen nach dem Wesen von Gericht und Gerechtigkeit lassen ihn nicht mehr los. Mit von großer Einfühlungskraft getragener Sprache gelingt es Schlink, die Re-Vision dieser Liebesgeschichte für den Leser transparent zu machen. Es kommt sehr selten vor, dass ich ein Buch gleich noch ein zweites Mal lesen möchte. Bei Schlinks Vorleser war das der Fall.
Ruth und Naomi - (c) Barry Moser     Aus Wien erreichte mich eine Studie über Die Welt der Geistheiler. Der Literat und Ethnosoziologe Andreas Obrecht untersucht darin auf wissenschaftlich fundierte, zugleich aber ausgesprochen verständliche Weise die »Renaissance magischer Weltbilder« im heutigen Österreich. Das Buch baut auf zahlreichen Interviews mit Geistheilern auf, sowohl traditionell katholischen, neo-schamanistischen als auch aus der New Age Bewegung kommenden Heilern. Systematisch werden Traditionen, Vorstellungswelten, Ziele und Arbeitsweisen der Heiler dargestellt, wird das »Wirken magischer Kräfte« in einer modernen Gesellschaft untersucht. Obrechts Studie ist nicht zuletzt deshalb so spannend zu lesen, weil den Heilern viel Raum zur Selbstdarstellung gegeben wird. Ob man die Wertungen und Selbsteinschätzung der Heiler teilt oder nicht, ist nebensächlich. Obrecht leistet mit diesem Buch einen unschätzbaren Dienst zum Verständnis einer erstaunlich breiten Strömung im Kultur- und religiösen Leben der Gegenwart. Ein zweiter Band über das Selbstverständnis der Klienten soll im Frühjahr 2000 folgen.
Jona - (c) Barry Moser     Das mit Abstand schönste Buch, das ich dieses Jahr zu Weihnachten bekommen habe, war eine Bibel, entworfen und aus einem Guss gestaltet von Barry Moser, einem der wichtigsten amerikanischen Buch-Illustratoren der Gegenwart. Für die Originalausgabe der Pennyroyal Caxton Bible hat es leider nicht gereicht; denn dieses von Hand gedruckte und in zwei Bänden gebundene Meisterwerk der Buchkunst kostet satte $ 10.000. Aber auch in der liebevoll und sorgfältig ausgestatteten Buchhandelsausgabe bestechen Mosers 232 Illustrationen (eine Auswahl erscheint auf dieser Seite). Einerseits traditionell narrativ, gleiten sie in ihrer Gestaltung mitunter ins Metaphorische über, etwa bei Jona und dem Walfisch, oder sie fordern trotz aller traditionellen Symbolik die Aufmerksamkeit des lesenden Betrachters für das emotionale Drama ein, wie in der Ankündigung Mariens. Die US-Ausgabe der Moser-Bibel folgt dem Text der King James Bibel; ich kann mir jedoch sehr gut eine deutsche Ausgabe mit dem Text der Luther-Bibel vorstellen, der sprachgeschichtlich eine ähnliche Bedeutung zukommt wie der King James Bibel.

Ulrich Struve

Grimms Märchen und Deutsche Sagen, hrsg. v. Heinz Rölleke. Frankfurt a.M. Deutscher Klassiker Verlag. 2368 Seiten. Gebunden. 2 Bände. 128 DM/65,45 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN: 3-61864154-0.

Bernhard Schlink, Der Vorleser. Diogenes Taschenbuch, 1997. 207 Seiten. 14,90 DM/7,62 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN: 3-257-22953-4.

Andreas J. Obrecht, Die Welt der Geistheiler: Die Renaissance magischer Weltbilder. Böhlau Wien, 1999. 288 Seiten. Gebunden. 58,00 DM/29,65 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN: 3-205-99039-0.

The Holy Bible. Designed and illustrated by Barry Moser. Viking Studio Edition of the Pennyroyal Caxton Bible. 1004 Seiten Gebunden. US $ 65. New York, 1999.

Wir danken der R. Michaelson Galerie für die freundliche Erlaubnis, die Illustrationen aus der Barry-Moser-Bibel im Literatur-Café verwenden zu dürfen.


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