Da fährt einer nach Indien, einer, dem Josef Winkler, der Autor von Domra, aufs Haar gleicht, und beobachtet monatelang Einäscherungen am Ufer des Ganges. Tag für Tag schaut er den Ritualen der trauernden Familien zu, sieht sich das Glosen des Fleisches auf den Scheiterhaufen an, sieht wie unherstreunende Hunde angesengte Menschenknochen aus der Asche klauben. Er sinnt den Geiern nach, die auf im Fluss vorbeitreibenden Kadavern hocken, und er schreibt. Er notiert, was für die Kaste der Domra alltägliche Arbeit ist, für die westlichen Touristen schaurige Exotik und für den Erzähler Anlass zur Hoffnung auf Katharsis: die Feuerbestattungen in der heiligen Stadt Varanasi. Erzählt wird dabei kaum, denn es gibt so Recht nichts zu erzählen. Mit geringen Abwandlungen wird das immer wieder Gleiche der Verbrennungen skizziert, werden die "mich störenden und aufreizenden Knaben", von deren hervorlugenden schwarzen Schamhaaren und Geschlechtsteilen sich der Erzähler zum Schreiben animieren lässt, mit stereotypen, epische Beschreibungstechnik vage anzitierenden Beiworten abgehandelt. Zwar trifft man am Gangesufer keinen listenreichen Odysseus, doch taucht der "Junge mit dem Nasenring, der am Hinterkopf ein geringeltes, bis zu seinem Halswirbel hinunterreichendes Haarzöpfchen trug", immer wieder auf und landet endlich auch im Bett des Erzählers. Namen erhalten die aufreizenden Knaben nicht. Die sind den westlichen Besuchern des Erzählers vorbehalten. Winklers Schnappschüsse in Prosa wirken so, als würde man am Ende der Sommerferien mit den flüchtig sortierten, allzu zahlreichen Urlaubsbildern eines als Fotograf nur mäßig begabten Verwandten traktiert. Es sind wenig überzeugende Protokolle einer in die Ferne ausgelagerten Angst, die auf heimischem Mist gewachsen ist. Drohungen der Kärntner Dorfbewohner wegen seiner homosexuellen Neigungen gerinnen in den Träumen des Erzählers zur Furcht, bei lebendigem Leib dem Scheiterhaufen überantwortet zu werden. Mit Entsetzen denkt er an seine Kärntner Kindheit, an deren "Schuldgefühle und Angstzustände" zurück. Die Reise zu den Feuern dient letztlich der Abwehr dieses Kärntner Alps und weniger dem Erfassen und Gestalten eines Ausschnitts von Welt, wie das die Genrebezeichnung "Roman" vermuten ließe. Und so vermag Winklers Verharren an der Oberfläche der beobachteten Körper den Text letztlich auch nicht vor dem Abgleiten in Allegorie zu bewahren. Die Ängste der Kindheit, die daheim besonders reich wucherten, modern untergründig weiter, gerade so wie die Abertausende von Kinderleichen im heiligen Fluss. Während Kinder nämlich, von Steinen beschwert, im Ganges versenkt werden, kommt allein den als Erwachsene Verstorbenen die Feuerbestattung zu. Die Reinigungsrituale der Inder, das heilige Feuer von Harishchandra Ghat - sie sollen ihre befreiende Wirkung auch auf Winklers traumatische Kindheit entfalten. Dem allgegenwärtigen und selbstverständlichen Tod stehen die ungeniert zur Schau gestellten Geschlechtsteile der Inder - wohlgemerkt nur der Männer - als Symbole für das Wiedererstehen des Lebens gegenüber. Dass diese Selbstverständlichkeit im Umgang mit Körperlichem ausgerechnet eine der ältesten Schriftkulturen der Welt mit dem Nimbus der Natürlichkeit ausstatten soll, ist eine dem neunzehnten Jahrhundert verhaftete Spielart orientalistischen Denkens, die noch heute in touristischen Wahrnehmungsweisen unvermindert präsent ist. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass sich Winkler über den Voyeurismus der anderen Travellerboys und Travellergirls wiederholt mokiert.
Josef Winkler, Domra: Am Ufer des Ganges. Suhrkamp, 2000. Pb., 261 Seiten, 16,80 DM/8,59 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN 3-518-39594-7.
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