Foto von Ulrich Struve Pikaro unterm Sowjetstern
Notizen am Rande - Buchbesprechungen von Ulrich Struve

Vom Sterbebett herab enthüllt Klawdia Iwanowna, die ungeliebte Schwiegermutter, ihrem nicht minder ungeliebten Schwiegersohn Ippolit Worobjaninow das Geheimnis der »Zwölf Stühle«. In einem der Stühle ihrer Salongarnitur, so verrät Klawdia, bevor sie gänzlich ihren starrsinnigen Geist aufgibt, habe sie seinerzeit, als eine Hausdurchsuchung durch die Kommunisten bevorstand, rasch all ihre Brillianten im Wert von 70.000 Rubel eingenäht, um deren Umwandlung in volkseigenes Eigentum zu verhindern.
     Mit Schwiegersohn Ippolit Worobjaninow, dem im Zuge der Oktoberrevolution abgehalfterten Adelsmarschall, schicken Ilja Ilf und Jewgeni Petrow trotz seiner Leibesfülle einen wahren Ritter von der traurigen Gestalt ins Rennen um die verschwundenen Kleinodien. Worobjaninow ist den Wendungen des Schicksals so wenig gewachsen wie der Silberzunge Ostap Benders, einem Zufallsbekannten, der ihm im Handumdrehen das Geheimnis mitsamt einem beträchtlichen Anteil an den noch aufzufindenden Reichtümern abschwatzt.
     Ostap Bender, Lebenskünstler und Gauner aus Leidenschaft, ist der eigentliche Held des Romans. Ihm folgen wir gebannt und fast ebenso atemlos wie Worobjaninow auf der wilden Jagd nach den Juwelen der Verblichenen. Ohne Skrupel, aber mit gehörigem Charme schwindelt und scharwenzelt, besticht, betrügt und stiehlt Bender, um sich in den Besitz des inzwischen über die gesamte Sowjetunion verstreuten Vorkriegsmobiliars zu bringen.
     Die pikareske Suche des so ungleichen Gauner-Duos führt von Stargorod übers Schwarze Meer bis in die Hauptstadt des Imperiums. Falsche Geheimgesellschaften werden gegründet und Heiratsschwindel begangen, um Hinweise zu ergattern oder die eigenen Spuren zu verwischen und - Vater Fjodor stets einen Schritt voraus zu bleiben!  Denn auch der verzweifelt habgierige Pope hat der Sterbenden das Geheimnis des brilliantengefüllten Stuhles entlockt und wird in diesem gewitzten literarischen Road-Movie zum Gegenspieler Benders. 
     Ilf und Petrow inszenieren die Hetzjagd nach den Juwelen mit großem sprachlichen Witz, einem ausgeprägten Sinn für Situationskomik und reichlich satirischem Biss. En passant schildern sie die nachrevolutionäre Sowjetunion. Es überrascht daher nicht, dass manche Episoden oder Bemerkungen des Helden mit dem flotten Mundwerk einst der Zensur zum Opfer fielen.  Denn der Neue Mensch des heraufdämmernden kommunistischen Zeitalters erweist sich bei Ilf und Petrow als ausgesprochen menschlich, von bürgerlichen Eifersüchteleien angekränkelt und auf den eigenen Vorteil bedacht.  Doch sind es gerade die menschlichen Fehlbarkeiten und der aberwitzige Eigensinn ihrer Figuren, die den Roman heute noch höchst unterhaltsam und unbedingt lesenswert machen.

Ulrich Struve

Ilja Ilf / Jewgeni Petrow, Zwöf Stühle: Roman. Berlin: Volk & Welt, 2000. 508 Seiten. ISBN 3-353-01139-0. 24,50 EUR


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