Dezember 1998 - Diesmal von Wilhelm Weller
Stille Nacht, heilige Nacht | |
Vor kurzem verschwand ein Nachbar, dem ich in den letzten Jahren oft über den Weg lief. Man grüßte sich freundlich, doch leider blieb es immer bei den üblichen Floskeln. Wirklich schade, sicher hätte sich ein interessantes Gespräch ergeben können. Herr Zander sitzt jetzt in Haft. Die Staatsanwaltschaft wirft diesem netten Menschen Anlagebetrug in Millionenhöhe vor. Von der Polizei eskortiert wurde er in Handschellen abgeführt. Vorher hatten sie die Altpapiertonnen unseres Wohnblocks nach belastendem Material durchsucht. Mich lehrt dies, dass man mit seinen Mitmenschen rechtzeitig reden sollte - bevor es womöglich zu spät ist. Daher will ich in diesem Jahr einige meiner Nachbarn zum Adventskränzchen einladen und vielleicht auch unter den Weihnachtsbaum. Die alte Frau Schwarz zum Beispiel, sie wohnt im obersten Stockwerk. Auch mit ihr habe ich bis heute nicht ein einziges wirkliches Gespräch geführt. Man läuft im Treppenhaus aneinander vorbei, sagt sich guten Tag, das war es auch schon. Mein Beileid musste ich ihr allerdings aussprechen, zuletzt vor einer Woche. Die arme Frau hat einfach Pech. Der fünfte Ehemann ist ihr nun weggestorben. Sie war um ihn genau so rührend besorgt wie um ihre früheren Ehemänner. Immer wieder Witwe, vielleicht ist das ihr Karma. Im Nebenhaus wohnen ebenfalls interessante Leute. Einer soll sogar früher ein berühmter Psychiater gewesen sein. Immer vornehm, immer freundlich. Aber auch mit ihm habe ich bisher nur die üblichen Gruß-Floskeln gewechselt. Dr. Hanni Lächler. Der Vorname passt überhaupt nicht zu ihm. Nur der Nachname passt wie die Faust aufs Auge. Für sein Alter hat der Mann ein blendendes Gebiss - und strahlen kann der! Die junge Frau Stein in der Wohnung unter mir ist da ganz anders. Sieht blendend aus, ist aber aber doch die typische kühle Blondine. Dabei soll sie gar nicht aus dem Norden kommen, sondern aus dem bayrischen Bad Inschting. Vielleicht ist es gerade ihre kühle Art, dass ihr Verehrer wie Fliegen zuschwärmen. Eins-, zweimal sieht man sie zu Besuch kommen, dann ist schon der Nächste dran. Ihr Autostellplatz liegt direkt neben meinem. Mein alter Golf kann sich neben ihrem neuen Mercedes Cabrio eigentlich nicht sehen lassen. Ein seltsames Maskottchen baumelt an ihrem Frontspiegel. Das Ding sieht aus wie ein Miniatur-Eispickel. Vielleicht finde ich ja in den nächsten Tagen den Mut, sie anzusprechen - und einzuladen. Nein! Ich lade sie wirklich alle drei zu einem besinnlichen Weihnachtsabend ein, Frau Schwarz, Dr. Lächler und die junge Frau Stein. Wäre damit nicht ein Zeichen gegen das gleichgültige Nebeneinander so vieler menschen Gesetzt? Einfach mal die Scham überwinden, aufeinander zugehen, es nicht nur bei bloßen Worten belassen. Gerade an Weihnachten. Damit wäre diesem Fest sein eigentlicher Sinn zurückgegeben. Und man sollte wirklich miteinander reden, bevor es zu spät ist. Oder singen - haben wir nicht wundervolle Weihnachtslieder? Ja, ich sehe uns schon gemeinsam singen, ich und meine netten Nachbarn: »Stille Nacht, heilige Nacht!« |