Trossingen ist überall
Eine Biografie über den württembergischen Unternehmer Fritz Kiehn zeigt das Nazi-Mitläufertum der Provinz auf - und die folgenlose Zeit danach

Fritz-Kiehn-Str.
Auch heute noch geehrt: Wie hier in Deisslingen am Neckar sind Straßen und Gebäude nach dem Nazi-»Mitläufer« Kiehn benannt

Anfang der Achtzigerjahre, als ich meine ersten Zigaretten rauchte, gab es ein Gerücht, das in den links-alternativen Kreisen (in denen man sich bevorzugt Zigaretten selber drehte) hartnäckig kolportiert wurde: »Wer Efka-Blättchen verwendet, spendet an die NPD!« Und ein weiteres lautete: »Bei der Beerdigung von Fritz Kiehn wurde das Horst-Wessel-Lied gespielt.«
     Gerüchte entstehen dann, wenn man nichts genaues weiß, oder wenn man genaues nicht wissen will. Und meistens entsprechen sie nicht der Wahrheit - jedenfalls nicht so ganz. Aber wer weiß?
     Dass wir nun ziemlich genau über das Leben des Ehrenbürgers meiner damaligen Nachbarstadt Trossingen Bescheid wissen, verdanken wir einer Biografie der Tübinger Historiker Hartmut Berghoff und Cornelia Rauh-Kühne, die unter dem Titel »Fritz K. - Ein deutsches Leben im zwanzigsten Jahrhundert« bei der DVA erschienen ist.
     Als erstes drängt sich einem natürlich die Frage auf, was an der Biografie eines kleinen Unternehmers aus einem verschlafenen süddeutschen Provinznest so interessant sein soll, dass es Leserinnen und Leser auch in Hamburg oder Heringsdorf interessieren könnte. Die Antwort, wie könnte es anders sein, lautet: Die Biografie ist interessant, weil es die Fritz Kiehns in Deutschland überall gegeben hat und man überall die Trossingens findet.
     Unter vielen Gesichtspunkten ist es ein bemerkenswertes Buch. Zum einen ist es eine akribische historische Arbeit, die wichtige Einblicke in die Funktionsweise des Nationalsozialismus und seiner Herrschaft in der Provinz bietet. Zum anderen ermöglicht die Biografie, zumal sie sich über 95 Jahre erstreckt, die Geschichte dieses Jahrhunderts in ihrer ganzen Komplexität über die Epochengrenzen hinweg zu betrachten. Und: es ist ein Buch, das in Trossingen (und hoffentlich auch in vielen anderen Provinzstädtchen) endlich die nie geführte Diskussion über die jüngste Geschichte auslöst.
     Fritz Kiehn, der 1908 als armer Handelsvertreter in den besagten Ort gekommen war, absolvierte durch Einheirat in eine alteingesessene Familie und mit einem Gespür für gute Investitionen im Laufe von zwanzig Jahren eine Bilderbuchkarriere vom armen Schlucker zum zweitweitwichtigsten Unternehmer im Städtchen. Er litt nun keine Not mehr, hatte wirtschaftlichen Erfolg mit einem soliden Unternehmen und wohnte im großbürgerlichen Ambiente einer völlig überdimensionierten Villa.
     Eigentlich hätte er sich nun entspannt zurücklehnen können, doch Kiehn, dem ein Psychologe vermutlich eine narzisstische Störung attestiert hätte, war trotz seines Lebensstils gegenüber den eingesessenen Industriebaronen nur eine kleine Nummer. Darüber hinaus litt er unter dem Makel des Zugereisten. Die politische Situation in Deutschland geschickt ausnutzend, drehte er den Spieß nun um: Kiehn trat lange vor 1933 der NSDAP bei, wurde Ortsgruppenleiter und erster Trossinger Abgeordneter im Reichstag, war SA-Führer, wechselte später in die SS und trug stolz seinen »Ehrendolch«.
     Nun war er wichtig, was er auch fleißig demonstrierte. Sei es im flotten Mercedes mit SS-Stander und Chauffeur in Uniform oder auf Empfängen in seiner Villa für »hohen Besuch aus der Reichshauptstadt«. Er sammelte Titel, war Mitglied im »Freundeskreis Himmler« und beteiligte sich skrupellos an »Arisierungen« jüdischer Unternehmen in Württemberg.
     Als »Führer der Württembergischen Wirtschaft« stand Kiehn freilich in der Nazi-Hierarchie nur in der dritten Reihe, unter vielen anderen kleinen profilneurotischen NS-Führen. Seine eifersüchtig gepflegten Kontakte reichten allerdings bis in die Spitze des Staates, bis hin zu Himmler persönlich, der 1945 einige Tage als »Ehrengast« im Hause Kiehn weilte und das Interesse der amerikanischen Luftwaffe auf Trossingen lenkte.
     Nach einem Zwischenspiel in französischer Internierung verlief Kiehns Leben im Prinzip auch unter den gewendeten Verhältnissen der Bundesrepublik in erschreckender Kontinuität weiter wie bisher. Nach wenigen Jahren hatte er seinen alten Platz in der lokalen Gesellschaft wieder eingenommen. Durch eine Masse an »Persilscheinen« entlastet wurde er als »Mitläufer« eingestuft und praktisch wieder rehabilitiert. Die Loyalität der Efka-Mitarbeiter zum Firmenchef, die Solidarität der kleinstädtischen Gemeinschaft und vermutlich auch die Schuldgefühle der vielen Mitläufer waren stärker als der Wunsch nach Abrechnung und Neuanfang. Kiehn passte sich hervorragend an, wurde ganz staatstragend Mitglied im »Lions-Club«, protegierte Sport und Kultur und kokettierte auch jetzt mit seinen guten Kontakten »nach oben«, nun zur CDU und FDP. Gleichzeitig gewährte er aber auch alten Kameraden großzügig Unterschlupf, wie dem Nazi-Minister Baldur von Schirach nach dessen Haftentlassung. Die Trossinger Ehrenbürgerwürde erhielt Kiehn stillschweigend zurück.
     Das Buch ist sehr lesenswert, weil es die Geschichte dieses Jahrhunderts aus dem Blickwinkel der Provinz beschreibt. Trossingen ist überall, es gibt sicher kaum einen Ort in Deutschland, in dem nicht noch Leichen im Keller schlummern. Der Umgang mit der Schuld fällt schwer, der Umgang mit der »zweiten Schuld« (Ralph Giordano), also dem Vergessen und Verdrängen, noch viel schwerer. Es wird aber auch die Gefahr deutlich, die zu allen Zeiten von inhaltsleeren politischen Selbstdarstellern ausgeht, denen der eigene Narzissmus immer an erster Stelle steht. Fritz Kiehn war extrem anpassungsfähig und konnte wie ein Chamäleon das jeweilige politische System für die Inszenierung seiner eigenen Person benutzen.
     Schade ist nur, dass »Fritz K. - Ein deutsches Leben im zwanzigsten Jahrhundert« sich sprachlich vom Charakter eines geschichtswissenschaftlichen Aufsatzes nur schwer löst. Es ist trocken geschrieben, was manchmal auch zu unfreiwilliger (?) Komik führt und verpasst bis zum Schluss die Chance einer spannenden Erzählung. So wird es leider ein Stück reiner Wissenschaftsliteratur bleiben - und nicht nur in Trossingen bleibt zu befürchten, dass alle über das Buch reden, es aber nur wenige bis zum Schluss gelesen haben.

Johannes Näumann

Hartmut Berghoff; Cornelia Rauh-Kühne: Fritz K. Ein deutsches Leben im zwanzigsten Jahrhundert. Gebundene Ausgabe. 2000. Deutsche Verlags-Anstalt DVA. ISBN/EAN: 9783421053398

 


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