Poetry Slam: »Wollt ihr, dass er weiter liest?!«

Poetry Slam - Fest der Fantasie oder niveauloses Gladiatorenspiel? Der Poetry Slam, die von vielen Leseratten, Geschichtenhungrigen und Lyrikliebenden erst noch zu entdeckende Neuauflage des gesprochenen Worts, findet immer weitere Verbreitung. Andererseits fehlt es nicht an Kritik an dieser Veranstaltung vonseiten des Kulturjournalismus' und eingeschworener Anhänger traditioneller Lesungen.
     Hier ist das Abendprotokoll eines Slam-Veranstalters: Timo Brunke organisiert und moderiert seit März 2000 sehr erfolgreich den Stuttgarter Poetry Slam in der Rosenau. Für uns schreibt er aus seiner Perspektive des MC (»master of ceremony«), was ihn in puncto Poetry Slam bewegt, auf- und anregt.

Der Stuttgarter Poetry Slam findet im allgemeinen jeden ersten Sonntag im Monat um 20:30 Uhr in der Rosenau statt (Rotebühlstrasse 109b, 70178 Stuttgart).

Wer sich für den Stuttgarter Slam interessiert und sich näher informieren möchte - einfach Timo Brunke anrufen: (0711) 657 47 18 oder eMail: Angelika.Brunke@gmx.de oder Timo.Brunke@gmx.de.

Über diese Mail-Adressen kann man auch die kostenlose Erinnerungs-eMail bestellen, die rechtzeitig auf den nächsten Slam in Stuttgart und auch auf Sonderveranstaltungen hinweist.

Wie ich im Moment den hinteren Wirtshaussaal betrete, fällt mir ein: ich hab vergessen, einen neuen Eddingstift zu kaufen! Ich brauche diesen Eddingstift, um die Namen der Poetinnen und Poeten des heutigen Abends auf der Bühnentafel groß genug hinschreiben zu können. Das gehört dazu: Übersicht, bei so viel Improvisation, die heute wieder über mich hereinbrechen, mich auf Händen tragen oder aber auslaugen wird, je nachdem. Ich rufe zu Hause an: »Angelika, bring bitte den Eddingstift von meinem Schreibtisch mit, danke!«
     So, das Gastro-Personal, Olaf, Maria und Johannes, wuseln schon. Olaf, der Techniker, schiebt die fette Freitreppe aus Holz vor die Mitte der Bühnenrampe. Bühne frei für die Stars des Abends: die mutigen Zehn, die durch den Vortrag ihrer Texte und das Schlottern ihrer Kniescheiben Ruhm und Rosen ernten wollen. Die Kasse muss gerichtet werden. Sie fungiert auch als Informationsstelle für die Poetinnen und Autoren, die heute Abend spontan mitmachen wollen: das Wichtigste sind ein Sektkübel, kleine Fresszettel und Kugelschreiber. In den nächsten zwei Stunden müssen mindestens fünf Zettel, mit Namen beschrieben, in diesen Sektkübel geschmissen werden, sonst kriegen wir eine Lücke ins Programm. Denn nur fünf Namen stehen bereits fest. Die andere Hälfte muss der Musenklepper Pegasus selber hier vorbeibringen.
     Dann präpariere ich die Bühne. Ich fülle zwei weitere Sektkübel mit Rosenköpfen. Das ist der eine der beiden Preise, die in der Rosenau zu erringen sind: wer heute gewinnt, wird mit roten Rosen überschüttet. Der andere Preis ist der »Stuttgarter Dichtungsring«, der sich heute Abend an jene Hand heften wird, die den Siegtext in den Fingern hielt. Dreimal muss ein Dichter diesen Ring gewinnen, dann darf er ihn behalten. Bislang ist das einem Slammer geglückt: Jaromir Konecny aus München, einer, der zum Urgestein der deutschen Slam-Szene gehört. Neben die Sektkübel lege ich noch die Stoppuhr und das Spielzeugpfeifchen. Zu Beginn des Slams werde ich diese beiden Gegenstände einem Menschen im Publikum in die Hand drücken, der die jeweiligen Beiträge abpfeift, sollte der Vortrag länger als sieben Minuten dauern.
     Allmählich strömt das Publikum in den Raum. Manche kommen eineinhalb Stunden vor Beginn der Show, aus Sorge, keinen Sitzplatz mehr zu kriegen. Meine Vorfreude steigt, wenn ich das sehe, wie sich Leute miteinander auf den Abend freuen, der so offen ist in seinem Verlauf und in seinem Ende. Eine Poetin, Lena (Name frei erfunden) kommt durch die Tür. Sie hat sich von mir letzte Woche überzeugen lassen können, es heute Abend zu wagen mitzuslammen. Jetzt hat sie ein ganz nervöses Gesicht und ich weiß schon, was sie mir sagen will: »Timo, ich hab mir's nochmal gut überlegt, ich mach heut Abend doch nichts!« Ich habe inzwischen eine Regel für mich verinnerlicht: immer gut sein zu denen, die da dichten. Ich rede Lena gut zu. Sie bleibt bei ihrem Entschluss. Ich schlage ihr einen Kompromiss vor: sollten sich zu wenig Autoren heute Abend »in den Topf schmeißen«, dann werde ich sie bitten, doch noch mitzumachen. Lena lacht ein bisschen panisch, ist aber damit einverstanden. Inzwischen gehen im Saal die Sitzplätze aus. DJane Sophia trudelt ein und nimmt den Biertisch hinter dem schmucken Tresen in Beschlag, dort stehen zwei Plattenspieler für ihre Jazzscheiben bereit. Ich muss zur Kasse, Leute beruhigen, die auf jeden Fall noch hineinwollen, aber draußen vor der Tür noch auf Freunde warten müssen, etc.
     Wenn nur Platz für die Poeten bleibt, sich einen Weg durch die Menge auf die Bühne zu bahnen, dann bitte: hereinspaziert und Manege frei! Ich gebe Handzeichen zu Olaf, der macht die Scheinwerfer an, schickt mir Strom ins Mikrokabel und ich sage: »Guten Abend, Freundinnen und Freunde der Poesie, ich freu mich, ein so niveauvolles, poesiesüchtiges Publikum zu sehen; wir haben heute einen Gast aus der Schweiz hier bei uns« und dann sage ich, wie der Gast heißt, nämlich Tom Combo aus Winterthur, weshalb ich froh bin, ihn eingeladen zu haben und beginne, für die, die zum ersten Mal hier sind, die Regeln des Abends zu erklären:
     »Es wird zwei Runden mit je fünf Beiträgen geben. Fünf Dichter habe ich im Vorfeld eingeladen, heute mitzumachen. Die fünf übrigen Plätze werden von denen eingenommen, die ihren Namen vorhin an der Kasse in den Topf geschmissen haben. Jeder, der hier vorträgt, hat sieben Minuten Zeit, euch von seinem Text und seinem Vortrag zu überzeugen. Nach fünf Beiträgen werdet ihr, als kollektive Jury, durch euren Applaus klarstellen, wer die Rundensiegerin bzw. der Gewinner der ersten Runde sein wird. Nach der Pause geschieht das Gleiche noch mal. Dann, wenn ihr eure Rundensiegerinnen und -sieger ermittelt habt, veranstalten wir zwischen diesen beiden ein Stechen. Das bedeutet, beide Rundensieger müssen mit einem neuen Text noch ein Mal ran und dann wird solange geklatscht, bis es für eine/für einen der zehn PoetInnen rote Rosen regnet.«
     Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt und picke mir einen Menschen aus dem Publikum, der aussieht, als könnte er gut mit einer Stoppuhr umgehen und setze ihn in das Amt des »Stoppuhrenmanns«/der »Stoppuhrenfrau«, ein. Ein weiterer Posten wartet darauf, vergeben zu werden: die »Poetenfee« bzw. der »Poetenelf«: Sie oder er darf das Schicksal des Abends beeinflussen und die Zettel aus dem Kübel ziehen. Ich schaue mich nach Freiwilligen um. Eine Clique, rechts vorne schickt eines ihrer Mitglieder vor, und Elke (Name frei erfunden) ergibt sich ihrem Schicksal, Schicksal zu spielen. Der erste Name wird aus dem Topf gepflückt: es ist Henning (N.f.e.) aus Aalen. Er war noch nie hier in der Rosenau, hat aber bereits einen Slam in einer Kleinstadt der Umgebung gewonnen. Er merkt bald während er spricht, dass er hier ein Publikum vor sich hat, das schon einiges an Slam-Texten gewohnt ist und dass er an seinen Erfolg von vor drei Wochen hier wohl nicht anknüpfen wird. Ein freundlicher Applaus nach sechseinhalb Minuten Beziehungsprosa dürfte ihn veranlassen, wieder hier vorbeizuschauen. Der nächste Dichter ist ein alter Bekannter. Ich habe Andreas Grimm diese Woche angerufen, ob er nicht mitmachen wolle. Nun kommt er an seinen Stammplatz hinterm Mikro zu stehen und beginnt, auswendig (das kommt meistens besser, als abgelesen) und pathetisch zu deklamieren, wie ich es von ihm gewohnt bin.

Der Slam nimmt seinen Lauf, ich lehne mich innerlich kurz zurück, um euch Leserinnen und Surfern im Literatur-Cafe mitzuteilen, wie die Sache mit dem Slam eigentlich angefangen hat: In Chicago, im Jahr 1986, hat alles begonnen. Marc Smith, ein Bauarbeiter, der gerne Live-Jazz hörte und genauso gern zu Lesungen ging, empfand ein Unbehagen darüber, dass zwar auf Jazz-Sessions in den Chicagoer Clubs immer dufte Stimmung herrschte, hingegen bei Lesungen, die ihn genauso interessierten, oft eine staubtrockene Stimmung war. Marc Smith verfolgte ein Ziel: er wollte Lesungen abhalten, die sich wie Jazz-Abende gebärden. Er fing an, in seinem Stammlokal, dem Green Mill Jazz Club, seine Texte auswendig in den Saal zu rocken. Bald ging ihm der eigene Vortragsstoff aus. Seine Veranstaltung hatte sich aber bereits herumgesprochen und bald war Marc Smith in der Chicagoer Szene ein bunter Hund. Die beste Lösung für die Zukunft seiner Lesungen war, andere Autoren mit auf die Bühne zu schleifen. Auch das war von Erfolg gekrönt. Und so begannen Smith und sein Haufen Autoren, eine Institution zu werden. Irgendwann kam dann die Idee auf, den Abend als »Sängerwettstreit« aufzuziehen, und damit war der Poetry Slam geboren. (Manche Kenner behaupten, der Poetry Slam sei eine uralte Veranstaltungsform. Sie verweisen auf Fischerdörfer am Mittelmeer, wo unter den Fischern seit alters her um die Wette gedichtet wird, wo die Teilnehmer ebenfalls Zettel mit ihrem Namen oder persönliche Gegenstände in einen Korb hineinwerfen, um die Reihenfolge der Vortragenden auszulosen.) Der Poetry Slam verbreitete sich schnell über die ganzen Vereinigten Staaten. Anfang der 90er-Jahre wurden die ersten US-weiten nationalen Slam-Meisterschaften ausgetragen. Mitte des letzten Jahrzehnts schwappte die Bewegung dann nach Europa hinüber. Berlin und München waren wohl die ersten Adressen. Stuttgart kam erst relativ spät dazu, einen regelmäßigen Poetry Slam abzuhalten.

Achtung, Slam-Veranstalter in Hamburg, Berlin, München oder anderwo! Berichtet uns und unseren Gästen doch hier auch mal von euren Slams! Schickt euren Bericht einfach per eMail an die Redaktion des Literatur-Cafés (redaktion@literaturcafe.de).

Apropos Stuttgart: Eben hat Volker, der Stoppuhrenmann des Abends, in die Spielzeugpfeife geblasen und den vierten Poeten des Abends wissen lassen, dass er sich beeilen muss. Dieser - hinterm Mikrofon stehend - dreht mir euphorisch sein Textblatt entgegen: nur noch zwei kurze Absätze, dann ist er mit seiner Chronik über einen Besuch bei der Großtante fertig. Ich frage die Versammlung: »Wollt ihr, dass er weiter liest?!« Die Mehrheit ist dafür, viele haben sich über die skurrilen Details aus dem Familienleben des Slammers amüsiert. Dann der fünfte Beitrag: Kathrin, eine Studentin aus Friedrichshafen am Bodensee, hat vom Stuttgarter Slam Wind bekommen und schaut auf der Rückfahrt von ihrem Wochendausflug in der Rosenau vorbei. Es ist schade, dass so wenig Beiträge aus weiblichen Mündern kommen. Kathrin steht auf ernsten Vortrag, ernster Lyrik. Es geht um Beziehungskrisen, Weltschmerz und Naturstimmungen, aber so fein getextet, dass es mucksmäuschenstill im Saal wird. Das macht mich glücklich, wenn ich spüre, wie der Respekt vor Kathrin und ihren Texten eine fast widersprüchliche Atmosphäre von Ruhe und Anspannung erzeugt, die mich jedes Mal ergreift, wenn sie spontan entsteht. Etwa jeden zweiten Slam erlebe ich sie hier in Stuttgart: kollektiv geteilte pure Aufmerksamkeit. Ein rarer Moment. Dann ist Kathrin auch schon fertig und verlässt zielstrebig die Bühne. Und ich muss auf die Bühne, um den Sieger/die Siegerin erklatschen zu lassen. Ich schüttle mein Kurzzeitgedächtnis, damit ich mich erinnere, was die einzelnen Texte in etwa ausmachte und rufe nacheinander die fünf Poetennamen auf. Ich bitte das Publikum, sich erst einmal warm zu klatschen und mir darüber mitzuteilen, wie siegverdächtig die Beiträge jeweils waren. Andreas Grimm und Kathrin bekommen nicht nur den lautesten, sondern (und das ist das zweite Kriterium für mich) auch den dichtesten Applaus. Einzelne Pfeifer und Juchzer versuche ich, »in der Relation zu hören«: Aus ihnen schließe ich am wenigsten, ob ein Beitrag zum Favoriten gekürt werden soll. Es gibt im Unterschied zu diesen durchdringenden, aber deutlichen Einzelpfiffen noch dieses euphorische Johlen aus über hundert Kehlen, begleitet von frenetischer »Händemusik«, das eindeutig ausdrückt, wer hier die Runde für sich entscheidet. Das Publikum muss noch einmal klatschen, und zwar diesmal parteiisch, d.h. die Leute müssen sich für einen Beitrag entscheiden und beim Bewerten des anderen ihre Hände in Ruhe lassen. Andreas gewinnt zwar, aber Kathrin kann sich sicher sein, dass sie vielen im Raum was geben konnte. Der an sie gerichtete Applaus fällt dicht und laut genug aus.
     In der Pause sprechen mich zwei Jungs an: von wegen, sie hätten vor Beginn des Slams ein paar Reime auf Bierdeckel gekritzelt, und ob sie mit ihrem spontan entstandenen Opus nicht noch mitmachen könnten. Angesichts der heute etwas schwachen Poetenbeute im »Dichtertopf« sage ich Ja, um die Spannung zu erhöhen. Ein Redakteur eines freien Radios bittet mich, ihm die Frage zu beantworten, warum der Poetry Slam so viel Publikum anzöge und was das Besondere des Stuttgarter Slams meiner Meinung nach sei und ob von einem speziellen Stil in Stuttgart gesprochen werden könne. Mein Gast-Slammer aus der Schweiz hat noch keine Getränkegutscheine von mir bekommen. Ich unterbreche den Redakteur und bitte ihn, das Interview nach Ende der Veranstaltung fortzusetzen. Ich kämpfe mich durch die Menge und händige meinem Gast die Bons aus. Alte Freunde aus meiner Schulzeit sitzen mit ihm am Tisch. Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Jetzt treffen wir uns wieder Monat für Monat, weil sie Stammgäste hier sind. Wortwechsel, Organisation einer Flasche Sprudel für DJane Sophia, Koordination von Terminen mit dem Wirt der Rosenau, damit ich nach Slam-Ende den nächsten Slam und die nächste Poesie Gala ankündigen kann. Und dann ist die Pause rum.
     Die zweite Runde. Wen zieht Poetenfee Elke aus dem Kübel? Die Jungs mit den Bierdeckeln! Feixend schlurken die beiden auf die Bühne, erläutern dem Auditorium die Sachlage, von wegen sie hätten das gerade vor einer Stunde kurz so hingereimt, eben in der Pause hätten sie noch schnell nachgebessert und sie freuten sich darüber, als aktive Slammer nun ihr Eintrittsgeld zurückzubekommen. Dann grinsen sie sich an und beginnen, ihre Sammlung an Bierdeckeln abzugrasen. Die beiden reitet der Genius des Spontanen und so kommen sie beim Publikum ganz ordentlich an. Dann Startnummer sieben: ein junger Rapper um die zwanzig. Ich sehe ihn hier auch zum ersten Mal. Für ihn, den Breitbehosten, ist dieser Auftritt auch deshalb eine Premiere, weil er hier, beim Poetry Slam, keine Beats und auch keine sonstige musikalische Unterstützung für seinen Text bekommt. Also muss er sich den Rhythmus selbst geben. Erst holpern seine Reime ein bisschen ungelenk, aber spätestens nach dem zweiten Refrain seines Hiphop-Stücks fließt es ihm von den Lippen, und er erntet für seine apokalyptische Darstellung der gegenwärtigen Weltpolitik großen Applaus. Bei meiner Überleitung zum nächsten Beitrag rufe ich ihm noch ein »Komm wieder!« hinterher - und dann erlebe ich den für mich schwächsten Beitrag des Abends: Ein Mensch kommt auf die Bühne und fängt an, obszön über Sex bei alten Ehepaaren zu räsonieren. Ich erinnere mich, was ich neulich wieder in irgendeiner pseudo-bescheid-wissenden Zeitschrift »Über den Poetry Slam im allgemeinen« gelesen habe. Wieder einmal musste ich dort lesen, was sich wie ein roter Faden durch die journalistischen Beiträge, den Slam betreffend, zieht: Slam bedeutete, dass sich Möchtgern-Poeten und Geschichten-Possenreißer mittels gürtelhöheunterschreitender Pointen und thematischer Konzentration auf Sex und Ekel um den zweifelhaften Ruhm eines Slam-Siegs das Mikrofon aus der Hand kloppen. Als ob es das wäre!
     Was kann ich als Slam-Veranstalter zu dieser schon oft gelesenen Fehleinschätzung sagen? Es stimmt: auch blutiges Anfängertum, Rampensauigeleien und eitle Selbstüberschätzung finden sich auf der Slam-Bühne ein, wie bei diesem Beitrag über die alten Ehepaare. Aber gerade, weil ich weiß, dass solche Texte in Stuttgart die Ausnahme sind, ärgere ich mich sowohl über den da auf der Bühne als auch über den vermeintlich sachkundigen Redakteur.
     Poetry Slam heißt nicht niveauloses Beschimpfen und Gedröhn. Poetry Slam heißt für mich erst einmal ein lebendiger Abend mit vielen spontanen Reaktionen bei besten Absichten der meisten Beteiligten. Wenn ich beobachte, wie eine siebzehnjährige Schülerin mit glänzenden Augen und wackligen Knien auf die Bühne kommt und nicht weiß, wie ihr geschieht, weil sie nicht weiß, woher sie den Mut nimmt für dieses erste Mal: ein selbst geschriebenes Gedicht von sich zu geben, vor zweihundert Menschen oder mehr. Wie sie ihre Angst überwindet, um zu dem durchzudringen, worum es beim Slam immer gehen wird: um den Mut, eigene Worte zu finden und sie öffentlich zu wagen. Poetry Slam ist die hohe Schule des Zuhörens. Es geht um Respekt gegenüber denen, die sich trauen - aber auch um Ehrlichkeit gegenüber dem, was da vorgetragen wird. Ein ungeschickt geschriebener Text, ein missglückter Vortrag wird bei der Publikumsabstimmung zweifellos entsprechend quittiert werden: mit schwächerem Applaus. Und selbstverständlich melden sich auch während der Vorträge Einzelne im Saal zu Wort, geben Kommentare in den Raum ab. Auch das muss jede und jeder, der sich hinters Mikro stellt, in Kauf nehmen. Mut zur Lebendigkeit ist gefragt: von allen Seiten.
     Aber auch diese sieben Minuten mit Stümper-Satire gehen zu Ende, die Zwischenrufe hatten sich gehäuft, von »Aufhören, Aufhören!« war die Rede gewesen.
     Jetzt ist der Zeitpunkt für meinen Gast Tom Combo aus der Schweiz gekommen. Ich halte große Stücke auf ihn. Und er macht das, was ich mir von ihm erhofft hatte: er reißt das Publikum nach eineinhalb Minuten mit sich fort, keine Prosa, wie so oft, sondern Slam-Poesie, Performance-Poesie, Protesttexte, sarkastisch, rhythmisch und durchdacht, und - auswendig einstudiert. Der Saal tobt. Tom Combo, gut gemacht!
     Der nächste Beitrag klingt noch südlicher: ein Italiener hatte sich in den Topf geworfen und ist prompt gezogen worden. Er bringt seinen Text in seiner Muttersprache. Das Publikum, völlig überrascht, schüttelt sich vor Lachen. Ein Hoch auf die babylonische Sprachenvermehrung! Wie viele komische Momente wären uns verwehrt, würden alle dieselbe Sprache sprechen! Paolo Magro, kein Wort verstanden - gut gemacht! Die zweite Runde ist zu Ende. Die Applausabstimmung fällt eindeutig aus: Große Sympathien für die Bierdeckelsprüche, den italienischen Beitrag, aber eindeutig favorisiert wird der Einsatz von Tom Combo.
Rosenregen für den Sieger     Jetzt muss das Stechen entscheiden, ob Andreas Grimm oder Tom Combo heute Abend den Dichtungsring angesteckt bekommen wird. Drei Minuten Pause müssen sein, Beine vertreten, aufatmen. Andreas Grimm und Tom Combo machen untereinander aus, wer als Erster dran sein soll oder darf, so klar ist das nicht. Die beiden tigern im hintern Teil der Bühne auf und ab. So, DJane Sophia, bitte Jazz schweigen machen, Mucke aus, jetzt gilt's! Tom ist der Erste, er legt nach, er hat noch was loszuwerden in seinem Poem vom »Toleranzzug, der längst schon abgefahren ist«. Dann Andreas Grimm, mit einer skurrilen Abhandlung über die Bedeutung des Rotkohls für die Eisenbahnergewerkschaft. Woher nimmt der Mann bloß seine Ideen! Kein Wunder, dass sich das Publikum nicht entscheiden will. Nach zweimaligem Klatschkonzert ist noch immer nichts klar Schiff zu machen. Bitte, lieber Gott, spitz mir meine Ohren - was wollen die entfesselten Massen vor mir? Einen zweiten Text von jedem?! Ich schaue Andreas Grimm an. Der gibt mir mit Gesten zu verstehen, dass er nichts mehr auf Lager habe, was für die jetzige Situation kurz genug wäre. Das Publikum nochmal parteiisch klatschen zu lassen, hat keinen Sinn, die Hände sind eh noch rot von der letzten Befragung. Ich wage den Vorschlag: »Und wenn DJane Sophia, die mit mir hier auf der Bühnenseite dieselbe Akustik genießt, nichts einzuwenden hat, erkläre ich hiermit Andreas Grimm und Tom Combo zu Doppelsiegern dieses Poetry Slams!!« Und, ist die Jury einverstanden? Sie ist es, Glück gehabt! Der Abend hat sein Ziel erreicht. Ich bitte Poetenfee Elke auf die Bühne. Sie darf den Siegern rote Rosen streuen. DJane Sophia lässt den Kaiserwalzer von Johann Strauß laufen, das war's!
     Eine halbe Stunde später sitze ich völlig erledigt bei meinem zweiten Bier und resümiere mit Freunden die starken und schwächeren Momente dieses Abends. Sonntagabend ist ein beliebter Slam-Termin. Aber deshalb, weil die neue Woche winkt, hat sich der Saal jetzt relativ schnell geleert. Einer mit Hang zum Psychologisieren äußert sich und fragt: »Warum tun sich schreibende Menschen das an: sich hier auszustellen wie eine Schaufensterpuppe?« Ich vermute: Vielleicht auch, weil sie wissen wollen, ob sie verstanden werden. Besser als ein Slammer auf der Bühne nach einem geglückten Vortrag vor zweihundert Menschen mit vierhundert Ohren, kann sich kein Mensch verstanden fühlen. Ich glaube, es macht glücklich, verstanden zu werden.

Infos zum Stuttgarter Poetry Slam

Timo Brunke
26.10.2001


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