Fotos für Blinde

Es lasen ein Herr mit roter Jacke und Stirntuch (oder Band) im folgenden Herr A genannt, ein Herr Gero mit etwas düsterem Blick im folgenden Herr B genannt, Udo Grashalm und ein dicker Jungdichter aus Halle.

Was ist, was kann Poesie bewirken? Derartige Fragen werden Schriftstellern (Schreibenden) eigentlich ständig gestellt. Entweder sie soll zum Handeln verleiten, verführen oder sie dient zur Selbstreflexion, so etwas wird meist geantwortet. Es ist, als ob einem Blinden Fotografien gereicht werden, und ihm die Situation erklärt wird und dem Blinden wallt das Blut, wenn er beispielsweise von Kämpfen, unmenschlicher Anstrengung hört. Ihm wird ganz feierlich erzählt vom Goldglanz. Er gerät in Schwingung.

Die Bilder des Herrn A waren sehr unscharf. Die schöne Umgebung, welche er ablichtete oder besser abdichtete, reicht einfach nicht aus. Kein Blickfang, woran man sich nach Tagen noch erinnert. Das Einzige, was ich behalten habe, ist die rote Jacke, eine leichte Neigung zum Doppelkinn und ein blaues Tuch, welches gefaltet um die Stirn gelegt war.

Anders Herr B. Er schein ein besseres Objektiv zu benutzen. Es entsteht der Eindruck, das sind Texte, die entstehen mussten, unabhängig vom Willen des Herrn B. Und wenn einer schreiben muss, dann hat er die Chance, gute Texte zu feilen. Aber der Grundstock muss gegossen werden. Denn aus Spänen kann man nichts feilen. Über die Anekdote mit der Brunnenkresse auf dem Gleisbett sollte sich Herr B nicht allzu sehr ärgern, aber es ergibt sich einfach ein kurioses Bild, sollte ein Eisenbahnzug derart durch sumpfige Gefilde fahren, dass die Fahrgäste nasse Füße bekommen.

Herr C hat Heimvorteil, aber auch eine feine Nase für intensive Bilder. Manche sind so gut, dass man noch nach Jahren durch zufällige Erinnerungen einige vor Augen hat, obwohl man die Texte gerade ein oder zweimal gelesen hat. Ich kann nur hoffen, dass das Netz voller brennender Kerzen ausreichend Licht liefert, damit Herr C auch in Zukunft noch solch fantastische Bilder entwerfen kann.

Vom Herrn D hätte man etwas Komisches oder Drastisches erwartet, aber die Hoffnung auf etwas Deftiges erfüllte er nicht. Da alle Herren in einer Gruppe sich zusammenfinden, entsteht (gerade bei den Herren A und D) der Eindruck, das Gruppenziel besteht darin, sentimentale light depression Texte zu verfassen.

Rainer Dorn
31.01.1997


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