Otto Sander liest
In Stuttgart im Theater an der Rampe am 18. Januar 1997
Zwei Berichte von einer Lesung

von Wolfgang Tischer

Bei Theater und Film würde man es wohl Idealbesetzung nennen, aber ich weiß nicht, ob man dies auch bei Gedichten und Texten so sagen kann. Otto Sander liest Ringelnatz ist allerdings eine Idealbesetzung, und wie bei Filmen, kann man sich nach diesem Abend Ringelnatz ohne Otto Sander fast nicht mehr vorstellen.
Otto Sander liest      Es sieht ungeheuer leicht aus, wie Sander dort auf der Bühne sitzt und liest: vor sich die Texte von Ringelnatz als DIN A4 Kopien, daneben ein Glas Rotwein. Kleine, fast spielerische Gesten untermalen den Text, und in feinen Nuancen seiner Haltung liegt plötzlich viel Bedeutung. Sander liest, doch stets für das Publikum, dessen er sich immer bewusst ist und auf dessen Reaktionen er ebenfalls reagiert. Da wird das Theater zum Wohnzimmer, da wird Vorlesen plötzlich zum großen Ereignis und man hört gespannt, erheitert, betroffen und amüsiert zu, und keines der Gedichte langweilt, denn dort liest wahrlich ein Könner.

von Ingeborg Jaiser

Ringelnatz führte ein facettenreiches Leben: als Schiffsjunge, Flieger, Bibliothekar, Handlungsreisender - und Schriftsteller. Sander spielte facettenreiche Rollen - im Film und im Theater.

Ringelnatz lebte in Berlin.
Sander lebt in Berlin.

Sander liest Ringelnatz, wie der es selbst wohl nicht besser vermocht hätte: flüsternd, grummelnd, quäkend, das R rollend und die Silben dehnend, mit Genuss und Ironie, mit Ernsthaftigkeit und heimlichem Lachen. Skurrile, launige Gedichte über die Liebe, übers Meer, über Körperertüchtigung und Grossstadteinsamkeit. Dazu gesellen sich kurze, schräge Eigenkompositionen von Gerd Bessler am Klavier und einem merkwürdigen Instrument namens Stroviola.
     Und genau diese Mischung scheint den Nerv der Zeit zu treffen, scharten sich noch kurz vor Veranstaltungsbeginn Dutzende von Kulturhungrigen um die Abendkasse, in der Hoffnung, über die Warteliste an die letzten Restkarten zu kommen. Und die Glücklichen, die einen Platz in der überfüllten "Rampe" ergattert hatten, staunten und klatschten und giggelten ohne Unterlass. Bleibt zu hoffen, dass Otto Sander noch öfter den Weg nach Stuttgart findet.

  18.01.1997

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