StartseiteAlmtraumFolge 74 vom 14. Juni 2007

Folge 74 vom 14. Juni 2007

»Immer griffbereit«, sagte Bettina, als Stefan eine Flasche Obstler und zwei Stamperl aus dem Wandregal über der Kommode nahm. »Wenn dem Stückeschreiber nichts mehr einfällt, setzt er ein Besäufnis an. Oder schreibt eine Bauernposse, sonst wären wir nicht hier.«

Stefan lachte. »Ihr Humor gefällt mir, auch wenn er schmerzhaft ist.« Er stellte die beiden Stamperl auf den Tisch und goss sie randvoll. »Unten in Josephskirch führen sie pünktlich zur Saisoneröffnung und zur Erbauung der Touristen einen Schwank in drei Akten auf, dann alle drei Wochen, wegen dem Bettenwechsel. Ich bin zwar kein Heimatdichter, aber Heimat hat etwas. Ich würde sogar so weit gehen, Heimat für ein menschliches Grundbedürfnis zu halten. Prost!« Stefan nahm eines der Stamperl.

»Wer sind Sie, und was wollen Sie?«

»Haben Sie keine Heimat?« Stefan kippte den Schnaps hinunter. »Eigentlich mag ich den Obstler gar nicht. Es gibt hier einen leckeren Kräuterschnaps, Schenkelspreizer nennen ihn die Einheimischen. Nach zwei Gläschen musste ich höllisch aufpassen, weil die Burschen dann bei mir zu grapschen anfangen. Vierhändig, mein Liaba, von beiden Seiten, unten und oben.«

Bettina starrte ihn verständnislos an. »Bei Ihnen, unten und oben?«

Stefan hatte für einen Moment das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren. Meinte er sich oder Sie oder die frivole Freizügigkeit des Almlebens?

»Sie sind doch nicht etwa prüde? Im Gebirge ist man nicht nur dem Himmel näher. Die letzten Senner auf dieser Alm hatten acht Kinder, davon fünf außerhäusige, drei von ihm, zwei von ihr. Während die Sennerin das Rindvieh beaufsichtigte, war er als Holzknecht unterwegs. Stellen Sie sich einmal vor, den ganzen Sommer!« Er zeigte auf das Glas. »Sie mögen nicht?« Ohne die Antwort abzuwarten leerte er das zweite Glas.

»Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?« fragte Bettina noch einmal mit Nachdruck.

»Wollen Sie sich nicht doch endlich umziehen?« Er zog auffordernd am Schlafsack.

»Lassen Sie das!« fauchte Bettina und schlug ihm auf den Arm.

»Sie könnten freundlicher mit ihrem Lebensretter umgehen. Ich trage schließlich für Sie die Verantwortung.«

»Lebensretter? Mit der Verantwortung mögen Sie Recht haben. Wo säße ich jetzt ohne Sie?«

»Ich hatte Sie gewarnt, aber Sie haben nicht auf mich gehört. Mein Gott, haben Sie mir einen Schreck eingejagt. Der reicht in dieser Höhe für zwei Flaschen.« Stefan trank einen weiteren Schnaps. »Bevor die Flasche warm wird«, erklärte er.

»Wer sind Sie?« Bettina betonte jedes Wort eindringlich.

»Sie lassen wohl nicht locker. Ich heiße Stefan Bruhks.«

»Warum haben Sie mir die Augen nicht verbunden? Wahrscheinlich ist der Name falsch.«

Stefan lachte spöttisch. »Nachdem ich Ihnen endlich geantwortet habe, glauben Sie mir nicht. Genau weiß ich allerdings selbst nicht, wer ich bin.« Er konnte die plötzliche Verunsicherung von ihrem Gesicht ablesen. »Ich bin ein Niemand«, fügte er hinzu, »ein Nichts. Ein Phantom. Eine Null. Wertlos. Vier – nein, fünf Gründe, um die Konsequenzen nicht zu fürchten.«

»Niemand ist ein Nichts, jeder ist irgendwer.« Bettina starrte ihn mit Augen an, die sich vor Angst weiteten. »Mein Gott!« flüsterte sie. »Sie wollen mich umbringen! Das ist die einzig plausible Erklärung für Ihr Verhalten!« Sie erhob sich, ging rückwärts und stolperte über die Schüssel. Ihre Kniekehlen stießen gegen Holz und sie plumpste auf die Bank an der Wand.

»Seien Sie nicht kindisch!« fuhr Stefan sie an. »Ich brauche Sie lebend, vor allen Dingen schreibend. Als Frauen sollten wir Vertrauen zueinander haben.«

Er strich sich verwirrt durch die Haare.

»Ich – ich bin ziemlich durcheinander«, sagte er und zeigte in Richtung auf seine Kopfverletzung. Ironisch lachte er: »Sie haben mir den Verstand aus dem Kopf geprügelt.« Sogleich wurde er wieder ernst. »Normalerweise macht es mir nicht viel aus, wenn ich die Nacht bis vier oder fünf Uhr durchfahre. Anscheinend vertrage ich den Obstler nicht. Ich lege mich wohl besser ein Stündchen hin.«

»Tun Sie das«, nickte Bettina. Sie hielt sich mit beiden Händen an der Kante der Bank fest.

Er wollte ihr für die Erlaubnis danken, schwieg aber angesichts der Hilflosigkeit, mit der sie ihn ansah. Sie würde beim geringsten Anlass in Tränen ausbrechen. Als Entführer stand es ihm wohl nicht zu, das Entführungsopfer zu trösten.

»Den Wagenschlüssel habe ich bei mir«, sagte er an der Tür, sich umblickend. »Seien Sie also vernünftig. Darum schließe ich die Hütte auch nicht ab. Für heute reicht eine Rettung aus Bergnot. – Übrigens, ich habe Ihre Handtasche aus dem Auto mitgebracht. Sie steht auf dem Tisch neben der Eingangstür. Und wenn Sie nicht spätestens alle zwanzig Minuten Holz nachlegen, geht der Ofen aus. Sie haben heute schon genug gefroren.«