Stefan schob die Tastatur an die Seite. Berta Böttcher hatte schneller Eingang in eine Geschichte gefunden als sie es selbst befürchtet hatte. Für Amandas Kollegin Gundula war sie die Idealbesetzung. Sehr weit von einer tragischen Figur war auch er nicht entfernt, gestand er sich ein. Wie es aussah, blieb er zunächst auf seine Nachbarin als Informantin angewiesen. Also, nichts wie hin, versöhnen und ausforschen? Danach zu Christine in die Buchhandlung, bestellen und genau hinsehen, welchen Namen sie notierte.
Stefan verwarf die schnellen Entschlüsse und verschob den Besuch bei seiner Nachbarin. Die Wohnung bot ihm noch genug Gelegenheit zu Nachforschungen.
Im Bücherregal stand eine kleine Stereoanlage. Daneben schwang sich im Bogen ein einreihiges CD-Gestell vom Fußboden über einsachtzig bis zur Wand. In diesem Gestell fand er eine kleine ausgewählte Klassikabteilung, Orgelwerke und nur eine Oper, La Traviata. Der große Rest war Pop, Rock, Jazz, alles Querbeet und zumeist Sampler, mitten zwischen Rock-Interpretinnen entdeckte er Gershwin und Play Bachvon Jaques Loussier.
Stefan legte Rhapsodie in Blueein und räkelte sich in den Sessel. Nach der Einleitung ließ er die CD bis zum Höhepunkt des Themas vorlaufen. Intensiv genoss er die verbleibenden fünf Minuten, danach das Klavierkonzert in F-Dur, Céline Dion und Andrea Bocelli.
Die Musik entspannte ihn nicht im erhofften Masse, eine schwach vibrierende Unruhe blieb. Bevor er ins Bett ging, durchsuchte er noch den Kleiderschrank, fand aber bis auf einen Schlafsack nichts Besonderes.
Im Einschlafen wurde er durch die laute Musik eines vorbeifahrenden Autos aufgeschreckt. Er war wieder hellwach und hatte Gershwins Thema im Kopf. Die Melodie ließ sich nicht abzuschütteln, das Piano hämmerte dramatisch auf den Höhepunkt zu, an dem die Streicher besänftigend einfielen, während Stefan an den Ausgangspunkt zurückkehrte – dadadada, dadadarataratatara, er dachte an Unverfängliches und geriet unvermittelt an Bichler, den Kaufhausdetektiv, von dort brauchte er keine Ãœberleitung zu Direktor Ralzinger und der Frage, wie wohl er ihm gesonnen war und ob er die Anzeige unterdrücken würde, wie Stefan aus seinen Worten herausgehört zu haben glaubte. Für die Anzeige galt das Prinzip Hoffnung, gegen die schriftstellerische Erfolglosigkeit reichte Hoffnung nicht aus, er würde weiter aktiv bleiben müssen, notfalls eine Lektorin klauen – welch ein bestechender Einfall! Ein Dutzend Verlage war in der Stadt ansässig, Lektorinnen also reichlich vorhanden, auch wenn nur selten eine der freundlichen Rückantworten von einer Lektorin unterzeichnet war. Rückgabe der Lektorin, sobald sein Werk in den Schaufenstern der Buchhandlungen ausgelegt war, oder erst, wenn die ersten enthusiastischen Besprechungen in den Literaturbeilagen der überregionalen Zeitungen erschienen waren? Eine gehörige Portion kriminelle Energie wäre für das Vorhaben unerlässlich.
Stefan erschrak. An Fantasie mangelte es ihm nicht, doch schloss er, wie er ansonsten dachte und empfand, auf eigene Charakterfestigkeit. Er respektierte die von der Allgemeinheit festgelegten Regeln. War der Perückenklau bei R&C folglich nur ein Ausrutscher? Notwehr, weil die Situation für ihn so verrückt war, dass nur Verrücktes dabei herauskommen konnte?