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StartseiteAlmtraumFolge 103 vom 13. Juli 2007

Folge 103 vom 13. Juli 2007

Sie stiegen am Bach entlang den Hang hinauf wie auf einer nicht enden wollenden Treppe. Dahinter öffnete sich die Girpitsch-Alm mit ihren hügeligen Wiesen. Sie erklommen den ersten Buckel.

Bettina hielt ihn vom Weitergehen zurück. »Gönnen Sie mir den Ausblick, auch wenn es für Sie nichts Neues ist.«

Die Aussicht reichte über das Priachtal bis zum Oberalmsattel und entgegengesetzt hinunter in Richtung Josephskirch, wo die Berge niedriger und grüner wurden. Das Priachtal war eng und gab aus dieser Entfernung den Blick auf den Weg nicht frei. Gegenüber lag ein Felsmassiv, das sich mit seinen Ausläufern über mehrere Kilometer ausdehnte. Stefan zeigte Bettina die Gipfel des Priachers und der Karner Kalkspitze, den Steinkarsattel, der zwischen beiden Bergen lag und das Priachtal vom Gitzlachtal trennte, und die Route über die Decker-Alm auf den Priacher, die es auf keiner Karte gab. Die letzten dreihundert Meter seien zur Herausforderung geworden, erzählte er, und schilderte das Glücksgefühl, am Gipfelkreuz zu stehen. Die Belohnung war der Ausblick. Der Berg vergab sie an jeden, der auf dem Gipfel stand.

»Und wenn der Gipfel in den Wolken liegt?«

»Dann ist schlechtes Wetter. Für Verrückte hat der Berg nichts übrig.« Stefan deutete nach links, den Weg vom Priacher hinunter zum Steinkarsattel. »Wir waren wie im Rausch und sind noch am gleichen Tag über den Steinkarsattel auf die Karner Kalkspitze gestiegen. Eine Doppelbesteigung.«

»Ich verstehe«, sagte Bettina. »Wie das eben ist, wenn Männer einen Kraftakt vollziehen.«

»Hören Sie auf, mir Etiketten anzupappen.« Er sparte sich die Schilderung, wie sie vom Steinkarsattel aus den steilen Pfad auf die Karner Kalkspitze geklettert waren, mit dem Berg dicht vor den Augen. Die letzten Meter bis zum Gipfelkreuz führten um einen Felsen, und im Herum schoss der Blick kilometerweit ohne Halt und Horizont in die Landschaft, dass ihm schwindelig wurde und er sich wie ein Abstürzender an den Felsen klammerte. Noch nie zuvor hatte er in der Höhe einen solchen Schock erlebt. Minuten vergingen, bis er die Vision vom freien Fall abgeschüttelt hatte.

Stefan setzte sich in die Wiese, und nach kurzem Zögern folgte Bettina. Ihre Anspielung hatte ihn aus einem erlebten Traum gerissen und den Entschluss, sich zu setzen und nicht weiter zu gehen, als Antwort auf die Frage nach dem Wohin und Was erwartet mich? erscheinen lassen. Die Wohnung, Moosbauer und Berta Böttcher waren die bekannten Größen seines Lebens. Gerne würde er Stefanie kennen lernen. Die Sache mit Alfred hatte sich wohl erledigt. Seltsam, er konnte sich nicht richtig darüber freuen, wieder Herr im eigenen Kopf zu sein. Bettina erschien ihm als die realste und zugleich lebendigste Begegnung, seit er in Stefanies Wohnung aufgewacht war. Sollte er ihr die Autoschlüssel geben und die Straßenkarte? Sie würde allein nach Hause finden, vielleicht die Strafanzeige noch in Österreich aufgeben. Sie war umgänglich und hörte interessiert zu, sie hatte das Maß mehr an Sensibilität, um auch das nicht Geschriebene zwischen den Zeilen zu verstehen. Was sie allerdings über ihren Beruf sagte, klang sehr rational. Bücher zu verlegen ist Betriebswirtschaft. Wozu dann geisteswissenschaftliche Fachrichtungen studieren?

Was würde sie ihm bedeuten, wenn er sie als Frau und nicht als Entführte kennen gelernt hätte?