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Buchmesseimpressionen 2018 von Barbara Fellgiebel: Knallblauer Himmel mit Seifenschaumherzen

Was die Menschen hier auf der Frankfurter Buchmesse 2018 machen, ist uns nicht bekannt. Die Autorin des Beitrag meinte aber, es sei ein tolles Beitragstitelbild. (Foto: Barbara Fellgiebel)
Was die Menschen hier im Bild auf der Frankfurter Buchmesse 2018 machen, ist uns nicht bekannt. Die Autorin des Beitrag meinte aber, es sei ein passendes Beitragstitelbild. (Foto: Barbara Fellgiebel)

Montag 8. Oktober 2018

Meine Buchmesse fängt wie immer mit der Verleihung des Deutschen Buchpreiseses an.

Zum 14. Mal wird der Deutsche Buchpreis verliehen, und im Vorfeld ist es spannend, die verschiedenen Einschätzungen abzugleichen. Meine Tischnachbarin, eine frisch gebackene Vertreterin der Leipziger Buchmesse, wünscht sich Inger-Maria Mahlke. Ich tippe auf Nino Haratischwili, meine erste Georgierin, die ich seit 2010 kenne, als sie auf der Longlist war und uns als Blinddate-Überraschungsgast an die Algarve geschickt wurde zur lit.Algarve, dem ersten (und bisher einzigen) internationalen Literaturfestival an der Algarve. Seitdem nimmt Nino einen besonderen Platz in meinem Literaturherzen ein, und ich freue mich seit Jahren über all ihre Erfolge. Ich gönne ihr den Preis neidlos, mag aber nicht die politische Korrektheit an dieser Entscheidung: Georgien ist Gastland der diesjährigen Buchmesse  da ist es doch gar zu passend, wenn eine Georgierin den Preis erhält! Aber nach vier männlichen Preisträgern ist es höchste Zeit, dass eine Frau ihn mal wieder bekommt. Auf letzteres können wir uns einigen, ehe die Veranstaltung beginnt.

Cécile Schortmann moderiert auch in diesem Jahr. Charmant, professionell, gut vorbereitet macht die aus der Kulturzeit bekannte TV-Moderatorin die ziemlich dystopische, zurück gewandte Endauswahl der Jury zu einer gelungenen Veranstaltung. Umgekehrt zur unparitätischen Geschlechterverteilung des Vorjahres (4 Männer, 2 Frauen, 4 Verlage – denn Suhrkamp stellte drei der Autoren), sind diesmal 4 Frauen, 2 Männer und 6 Verlage im Rennen.

Inger-Maria Mahlke erhält den mit 25.000 Euro dotierten Preis für »Archipel«, eine Vierfamiliengeschichte, die auf Teneriffa spielt. Im Rowohlt Verlag erschienen. Sie punktet mit ihrer spontanen Dankesrede, in der sie Bücher mit Joghurt vergleicht. »Eine branchenpolitische Entscheidung«, meinen Verleger, die es wissen müssen. »No comment«, meint Denis Scheck, als ich ihn um einen spontanen Kommentar bitte und seine detailverliebte Auslegung über die unverzichtbare Beigabe von Rucola beim Verzehr von Kürbis nicht als Antwort auf meine Frage akzeptiere. Fünf Minuten später hält ihm ein Fernsehmensch ein Mikrofon unter die Nase, und er gibt gern und lang und breit Auskunft. Die Leipziger Messevertreterin kommt triumphierend zu mir. Nino läuft enttäuscht davon. Ach ja …

Nette Gespräche mit Cécile Schortmann und zwei hr-Redakteurinnen sowie ein interessantes Gespräch mit Petra Roth (Frankfurts Oberbürgermeisterin a. D.) entschädigen mich voll und ganz.

Frankfurt spart auch in diesem Jahr: Mini-amuse-geules tun es auch, darunter – siehe oben – Kürbis an Rucola statt opulentem Frankfurter Büffet.

Dienstag, 9. Oktober 2018

Bei der Eröffnungspressekonferenz liegt der Schwerpunkt auf dem 70. Geburtstag der von Eleanor Roosevelt formulierten Menschenrechte. Ein Hohn, wenn man bedenkt, wie sie täglich weltweit missachtet werden. Von existenzieller Bedeutung für die Buchbranche sei das Menschenrecht der Meinungsfreiheit, betont Heinrich Riethmüller, der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, und fordert »mit Nachdruck, dass alle inhaftierten Autoren, Journalisten, Verleger, Kulturschaffenden und anderen politisch Gefangenen in der Türkei – und weltweit – umgehend freigelassen werden.«

Sicher so gemeint, aber zu viel Pauschalisierung klingt hohl und verpufft in die leere Luft .

Mittwoch, 10. Oktober 2018

Die Wetter-App hält, was sie versprochen hat, nämlich sommerlich warmes Wetter, auch wenn die deutsche Version »ungesunde Luft für empfindliche Gruppen« angibt.

Der erste »richtige« Tag der Buchmesse ist immer der schönste. Die Messegänge sind noch leer, das Standpersonal freundlich und erwartungsvoll. Heute besonders, denn strahlende Sonne erzeugt strahlende Gesichter. Ein solches versucht draußen auf der Agora, mich zur E-Smokerin zu machen, sieht jedoch schnell ein, dass ich mich mit diesem Gedampfe nicht umgeben werde.

Der unverschämt blaue Messehimmel über Frankfurt – ohne Seifenschaumherzen, die wollten nicht vor die Kamera schweben. (Foto: Barbara Fellgiebel)
Der unverschämt blaue Messehimmel über Frankfurt – ohne Seifenschaumherzen, die wollten nicht vor die Kamera schweben. (Foto: Barbara Fellgiebel)

Schon gar nicht bei diesem so unverschämt knallblauen Himmel, vor dem Seifenschaumherzen in die Atmosphäre steigen. Das klingt kitschig ist aber einfach nur schön.

Mein einziges Selfie mit zeitknapper Nino Haratischwili (Foto: Barbara Fellgiebel)
Mein einziges Selfie mit zeitknapper Nino Haratischwili (Foto: Barbara Fellgiebel)

Wir beginnen, wie so oft, auf der Bühne der ARD mit Nino Haratischwili. Die 35-jährige Autorin kam 20-jährig von Georgien nach Deutschland und hat eine akzentfreie, reiche und bestechende Sprache – sowohl im Interview als auch in ihren Büchern. Anne Engel trägt mit ihren klugen Fragen dazu bei, dass man nach diesem Gespräch »Die Katze und der General« lesen will. Ein ALFA-Effekt.* Einer der wenigen.

*ALFA-Effekte entstehen, wenn ein mir unbekannte/r Autor/in einen solchen Eindruck hinterlässt, dass ich das präsentierte Buch einfach lesen (oder hören) MUSS.

Druckfrisch – Denis Schecks Warnungen und Empfehlungen mit Ausgangspunkt der SPIEGEL-Bestsellerlisten. Einige der Empfehlungen finden Sie am Ende dieses Artikels auf der Liste der Bücher, auf deren Lektüre ich mich freue.

Die drei wichtigsten Bücher dieser Buchmesse sind für Herrn Scheck:

  • Tyll, der bereits im vorigen Jahr auf der Buchmesse vorgestellte jüngste Roman von Daniel Kehlmann
  • Der Geist der Science-Fiction von Roberto Bolano
  • Der Spaß an der Sache – alle Essays von David Foster Wallace

Die beiden letzteren sind doch tot?! Ja, ganz richtig. Beide haben aber einen solchen Schatz an Literatur hinterlassen, dass gern zehn oder mehr Jahre vergehen, ehe ein Teil daraus auf Deutsch zugänglich ist.

Ob der an mindestens vier Stellen freudsche Vertipper des Titels (Der Geist der Science-Ficiton) auf der Homepage von Druckfrisch auf Herrn Scheck zurückgeht? Sehen Sie selbst.

»Garten ist Krieg« von Christian Feyerabend heißt eine weitere Empfehlung, die ich mir notiere, jedoch beim späteren Googeln als abstoßend einstufe. Für mich ist Garten Erholung und Therapie, und ich will mir kleine Tierchen, selbst wenn es ungeliebte Nacktschnecken sind, nicht als schwerbewaffnete Guerillasoldaten vorstellen.

Von unliebsamen Rechts-Störungen habe ich diesmal nichts zu berichten. Die Messeleitung hat ganze Arbeit geleistet, hat rechtsgerichtete Verlage unter ferner liefen in eine schwach besuchte Reihe verbannt, und ihre Auftritte finden in der Allgemeinheit weniger bekannten Zwischengeschossen hinter geschlossenen Türen statt. Und: die lieben Kollegen von der Presse haben endlich begriffen, welche unverdiente Reklame sie diesen Verlagen durch ihre Berichterstattung zuteil werden lassen. Also werden sie weitgehend totgeschwiegen. Sehr lobenswert.

Die dbp-Gewinnerin. Zwar nicht im Gespräch mit Frau Schortmann, aber unwiderstehlich, mitten auf der Agora – dem großen Messezentrum (Foto: Barbara Fellgiebel)
Die dbp-Gewinnerin Inger-Maria Mahlke. Zwar nicht im Gespräch mit Frau Schortmann, aber unwiderstehlich, mitten auf der Agora – dem großen Messezentrum (Foto: Barbara Fellgiebel)

Cécile Schortmann interviewt die dbp-Preisträgerin Inger-Maria Mahlke. Leider ist diese sehr nervös, und beim 20. »sozusagen« halte ich es nicht mehr aus.

Wir treiben interessante Geschlechts- oder Geschlechterstudien und kommen zu dem Schluss: Verschiedengeschlechtliche Konstellationen – also »Mann interviewt Frau« oder umgekehrt – sind die prickelndsten, »Frau interviewt Frau« kann auch sehr gut sein, »Mann interviewt Mann« ist klar am langweiligsten.

Ulrich Sonnenschein (l) im Gespräch mit Wolf Haas (r) (Foto: Jana Gross)
Ulrich Sonnenschein (l) im Gespräch mit Wolf Haas (r) (Foto: Jana Gross)

Natürlich spielen die individuell Beteiligten die Hauptrolle dabei, aber vergleicht man beispielsweise den wunderbaren Wolf Haas, der eigentlich immer zugänglich ist, im Interview mit Ulrich Sonnenschein, so hat dieser trotz seines sympathischen Namens keine Chance, Wolf Haas auch nur ein bisschen näher zu kommen.

Wolf Haas im Gespräch mit Christine Westermann (Foto: Jana Gross)
Wolf Haas im Gespräch mit Christine Westermann (Foto: Jana Gross)

Ganz anders hingegen Christine Westermann: Sie darf Haas fragen, was sie will, und es entstehen herrliche Dialoge:

Sie: Welche Frage sollte ich vermeiden?
Er: Sie können fragen, was Sie wollen, der Grad des Schwachsinns steigt mit jedem Auftritt.
Sie: ???
Er: Na, ich meine meinen Schwachsinn.
Sie: Sie sind so schlank! sind Sie verliebt?
Er: Ja. Ich bin seit 30 Jahren so schlank.
Sie: Sind Sie unvernünftig, wenn Sie verliebt sind?
Er: Ich bin Schriftsteller, da ist man immer unvernünftig.
Sie: Können Sie wütend werden?
Er: Ja.
Sie: Wann?
Er: Wenn Journalisten den gesamten Inhalt meines Buches erzählen, da packt mich eine mörderische Wut.
Sie: Wie sind Sie, wenn Sie wütend sind?
Er: Ganz ruhig.
Sie: Wovon träumen Sie?
Er: – – – keine Antwort
Sie (verunsichert): Eigentlich will ich nicht weiter fragen, weil ich nicht weiß, wie nah ich Ihnen kommen darf?
Er: – – – rückt ihr auf dem blauen Sofa versöhnlich einen Meter entgegen, und es prickelt weiter. 

Helene Hegemann (l) im Gespräch mit Iris Radisch (r) (Foto: Barbara Fellgiebel)
Helene Hegemann (l) im Gespräch mit Iris Radisch (r) (Foto: Barbara Fellgiebel)

Am ZEIT-Stand interviewt Iris Radisch Helene Hegemann zu ihrem 3. Buch »Bungalow«. Zunächst irritierend, denn die immer super vorbereitete Frau Radisch hat das Bedürfnis, von der 26-jährigen Frau Hegemann abgesegnet zu werden. Hat sie das Buch richtig verstanden? Helene Hegemann ist das nicht wichtig. Nach der vierten, fast flehenden Bitte, doch zu sagen, ja, sie habe es richtig verstanden, hört man die Steine der Erleichterung vom Radischherzen purzeln; das Gespräch nimmt eine gute Wendung und mündet in dem größten Kompliment, das die Feuilletonchefin der ZEIT der jungen Helene Hegemann überhaupt aussprechen kann: Sie sei die deutsche Virginie Despentes.

Mir fällt auf, dass ich dem Dresscode der diesjährigen Buchmesse noch kein Wort gewidmet habe: Die ewigen abgewetzten beige/braunen Cordhosen früherer zum Teil sehr bekannter Schriftsteller scheinen total verbannt und haben einer dynamischen, durchtrainierten, verjüngten Autorenriege Platz gemacht. Bei den Damen fällt auf, dass kaum noch gestöckelt wird. Auch elegante Designer-Outfits kommen auf bequemem, flachhackigem Messe-adäquatem Schuhwerk daher. Cécile Schortmann ist eine der wenigen Ausnahmen.

Donnerstag, 11. Oktober 2018

Juston Busse müht sich angestrengt um die Gunst des sehr jungen Publikums (Foto: Barbara Fellgiebel)
Juston Busse müht sich angestrengt um die Gunst des sehr jungen Publikums (Foto: Barbara Fellgiebel)

Wake-up Slam am ARTE Stand. Sehr empfehlenswert. Jeden Morgen veranstalten ein weiblicher und ein männlicher Poetryslammer waghalsige Sprachverrenkungen von beneidenswertem Geschick. So war es letztes Jahr. In diesem Jahr ist vieles anders, so auch die fehlende Geschlechterparität: Heute Juston Busse und Gax – zwei in Poetryslam-Kreisen uralte Männer, denen es entsprechend schwer fällt, das überwiegend 20-jährige Publikum zu begeistern.

Gastland 2019 Norwegen stellt sich im neuen Frankfurtpavillon vor (Foto: Jana Gross)
Gastland 2019 Norwegen stellt sich im neuen Frankfurtpavillon vor (Foto: Jana Gross)

Weiter zur Pressekonferenz des Gastlandes 2019 – Norwegen im spektakulären neuen Frankfurt-Pavillon. Muschelartig, licht und luftig scheint er vom selben Architekten zu stammen, der die Luftigkeit des Georgienpavillons inszeniert hat.

Ein Blick in Georgiens Pavillon unter dem Motto »Made by Characters« (Foto: Barbara Fellgiebel)
Ein Blick in Georgiens Pavillon unter dem Motto »Made by Characters« (Foto: Barbara Fellgiebel)

Norwegen beginnt musikalisch mit einer vertonten Avicii-Elegie – nur war Avicii Schwede!

Messechef Jürgen Boos (Foto: Jana Gross)
Messechef Jürgen Boos (Foto: Jana Gross)

Messechef Jürgen Boos fragt sich, warum die Wahl auf Norwegen fiel, und kommt mit zwei starken Argumenten: Gender Gap und Pressefreiheit! In beiden Fällen liegen die Norweger auf Platz 1 oder 2, so genau weiß er das nicht.

v. l. Maja Lunde, Erling Kagge und Linn Ullmann repräsentieren das Gastland 2019 (Foto: Jana Gross)
v. l. Maja Lunde, Erling Kagge und Linn Ullmann repräsentieren das Gastland 2019 (Foto: Jana Gross)

Die norwegischen Autoren Erling Kagge, Maja Lunde (Die Geschichte der Bienen) und Linn Ullmann (Die Wahrheit findet man oft in der Fiktion) begeistern mit ihrer bescheidenen, unaufgeregten Art, die gut zu Norwegens Motto »Der Traum in uns« passt. Sie haben viel zu sagen und irritieren mit keinerlei Star-Allüren.

Wieder blaues Sofa, zwei Männer

Jonas Jonasson und Michael Sahr (Foto: Barbara Fellgiebel)
Jonas Jonasson und Michael Sahr (Foto: Barbara Fellgiebel)

Offensichtlich fand keinerlei Vorgespräch statt, denn Herr Sahr stellt seine erste Frage auf Deutsch, und Jonas Jonasson versteht kein Wort.
Nochmal. »Na jetzt müssten Sie mich aber verstehen?«
Herr Jonasson ist nicht verkabelt, hat keinen Übersetzer im Ohr und nein, er versteht kein Wort.
»Dann müssen wir Englisch sprechen? Wie gut dass ich ein Jahr in Amerika war!«, meint Herr Sahr und bringt doch noch ein einigermaßen interessantes Interview zustande.

Es geht um Jonas Jonassons dritten Roman, die von den Fans ersehnte Rückkehr des Hundertjährigen der vor einiger Zeit aus dem Fenster seines Altersheims gestiegen war.

Ob ihm nicht ein wenig bange sei, vor der zumeist nicht erfüllbaren Erwartung an den zweiten Band einer Geschichte.

Jonasson: »Ich habe einen Onkel, der nie irgendetwas Positives sagt. Ihm gab ich mein Manuskript, und er meinte beim ersten Buch: Ich habe schon größeren Mist gelesen, und bei diesem: Das beste Buch, das du bisher geschrieben hast!«

Auf der ARD-Bühne interviewt Ariane Binder Wladimir Kaminer, der sich einst mit der »Russendisco« in unsere Herzen schrieb und spielte. Nun hat er das Genre gewechselt und avanciert zum vorkenntnislosen Star der Semperoper in Dresden. Interessant, diesen Vorzeigerussen nach so vielen Jahren wieder zu sehen und zu hören. Zunächst fällt seine Sprache auf: Sprach er vor knapp 20 Jahren perfekt Deutsch, entwickelt sich seine Aussprache nun wieder stark zu seiner russischen Muttersprache hin. Das Vokabular ist umfangreicher geworden, die Aussprache schlechter.

Diogenes-Verlagsleiter Philipp Keel (ganz rechts) im Gespräch mit drei seiner Autoren (Foto: Barbara Fellgiebel)
Diogenes-Verlagsleiter Philipp Keel (ganz rechts) im Gespräch mit drei seiner Autoren (Foto: Barbara Fellgiebel)

Im Frankfurt-Pavillon lädt Philipp Keel zum Diogenes Talk, und ich bin neugierig auf Benedict Wells, den Enkel von Baldur von Schirach.

Nach einer Stunde ist Herr Wells immer noch nicht auf die Bühne gebeten worden. Da gebe ich auf, denn nun ist Happy-hour, und ich ertränke meinen Frust in einem guten Tropfen oder zwei, lerne interessante Menschen kennen und freue mich über unerwartete Wiedersehen.

Freitag, 12. Oktober 2018

Wieder Sonne, wieder ungesunde Luft für empfindliche Gruppen. Wir sind nicht empfindlich und wissen das traumhafte Wetter zu schätzen. Die Hin- und Herhüpferei von Halle zu Halle ist bei Regen bedeutend unangenehmer.

Beim heutigen Wake-up Slam ist das erwartungsfrohe Publikum auffallend älter als gestern. Vielleicht, weil die gestrigen alten Herren als abtörnend in den sozialen Medien kolportiert wurden? Schade eigentlich, denn Julia Szymik und Piet Weber sind beide jung und frech und witzig. Letzterer hat das Buch »Ohne dich ist manchmal ganz gut« geschrieben, aus dem er amüsierend vorträgt.

Wir bleiben bei Comedy, und ich fühle, wie gut das tut nach zwei intensiven, auffallend ernsthaften Tagen.

Nico Semsrott – der traurigste Komiker der Welt (Foto: Jana Gross)
Nico Semsrott – der traurigste Komiker der Welt (Foto: Jana Gross)

Nico Semsrott, nach eigener Aussage der traurigste Komiker der Welt, den viele von Wahlplakaten der Partei kennen, stellt seinen Kalender des Scheiterns vor. 365 Tage historischen Scheiterns. Cool, lässig, locker. Am Ende sammelt er Unterschriften, denn sein Ziel ist, ins Europaparlament gewählt zu werden. Jetzt, wo Nigel Farage nicht mehr da ist, wird Nico als Alleinunterhalter dort sicher gebraucht.

v. l. Joachim Dicks, Karen Duve, Margarete Stokowski, Sascha Reh (Foto: Beate Fischer-Kanehl)
v. l. Joachim Dicks, Karen Duve, Margarete Stokowski, Sascha Reh (Foto: Beate Fischer-Kanehl)

Zurück zur ARD-Bühne und der Gesprächsrunde zum Thema »Der Anfang ist nah. Zum Wandel der Geschlechterverhältnisse«. Sascha Reh, Margarete Stokowski und Karen Duve liefern sich unter der Moderation von Joachim Dicks eine bisweilen wenig hoffnungsvolle Diskussion:

Männer hauen ihre Wut raus, Frauen werden dick. Und: Das Medium entscheidet, weiß Margarete Stokowski aus eigener Erfahrung: War sie bei der taz die kecke, freche Jungjournalistin, wird sie bei Spiegel Online von den männlichen Kollegen als untragbar oder unangemessen empfunden. Wer sagt da, der Anfang ist nah? Ach #metoo – dein Weg ist lang und steinig.

Maria Cecilia Barbetta im Gespräch mit Jens Jessen (Foto: Beate Fischer-Kanehl)
Maria Cecilia Barbetta im Gespräch mit Jens Jessen (Foto: Beate Fischer-Kanehl)

Am ZEIT-Stand interviewt Jens Jessen Maria Cecilia Barbetta. Die Argentinierin hat sich mit »Nachtleuchten« auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschrieben. Auch ihr nicht muttersprachliches Deutsch besticht und beeindruckt. Sie ist außerdem die erste Nicht-Gewinnerin, die das Format hatte, sich bei der Buchpreis-Jury zu bedanken. Immerhin erhält jeder 2.500 Euro, der auf der Shortlist landet!

Am FAZ-Stand wird Dunja Hayali zu ihrem Buch »Haymatland« von Alfons Kaiser interviewt: Großartig, diese vielseitige Frau mit dem irakischen Migrationsvordergrund (Zitat Hayali). Jeder Satz ist druckreif, spontan und wohlüberlegt – ein Spagat, den nur wenige schaffen.

Thomas Manns Lieblingsenkel Frido (rechts) im Gespräch mit Andreas Platthaus (Foto: Barbara Fellgiebel)
Thomas Manns Lieblingsenkel Frido (rechts) im Gespräch mit Andreas Platthaus (Foto: Barbara Fellgiebel)

Frido Mann ist eigentlich Psychologe. Nun hat der dynamische Lieblingsenkel von Thomas Mann »Das Weiße Haus des Exils« geschrieben, und wir erfahren, dass die Bundesregierung das kalifornische Exildomizil der Familie Mann erworben hat, um damit eine kulturelle Brücke zwischen Amerika und Deutschland zu schlagen. In diesen Zeiten der kulturellen Flaute in Amerika sicher eine willkommene Initiative, zumindest bei denen, die nicht das Sagen haben.

Nora Krug im Gespräch mit Denis Scheck (Foto: Barbara Fellgiebel)
Nora Krug im Gespräch mit Denis Scheck (Foto: Barbara Fellgiebel)

Wenn man das Glück hat, Denis Scheck mit seinem Buch zu begeistern, ist man fein raus. Nora Krug ist dieses Kunststück mit ihrem Bilderbuch für Erwachsene und dem deutschen Titel »Heimat« gelungen.

Die 1975 geborene Design-Professorin sieht aus wie eine junge Katja Mann, lebt in New York und hat das Buch auf der Suche nach ihrer Vergangenheit zunächst auf Englisch … geschrieben kann man eigentlich nicht sagen:  gemacht, geschaffen, denn es handelt sich um ein vielschichtiges Album mit allen Facetten der Kunst. Dann hat sie es selbst übersetzt.

Wie schade, dass es nicht in mein knapp bemessenes Gepäck passt, ich hätte mich gern sofort darin verloren.

Samstag, 13. Oktober 2018

Den vollen Cosplay-Samstag spare ich mir und genieße stattdessen die jüngste Frankfurt-Attraktion: Die neue Altstadt.

Welch Freude, inmitten dieses Touristenmagneten auf Open Books zu treffen: Open Books ist eine seit zehn Jahren kontinuierlich gewachsene Initiative der Stadt Frankfurt. Unter dem Motto »Kultur für alle und mitten in Frankfurt« werden an fünf Tagen Hunderte von Autor/inn/en und ihre Neuerscheinungen vorgestellt. Bis auf drei Veranstaltungen immer kostenfrei und an Veranstaltungsorten rund um den Römer.

Artur Becker (links) liest aus »Der unsterbliche Mr. Lindley. Ein Hotelroman« (Foto: Barbara Fellgiebel)
Artur Becker (links) liest aus »Der unsterbliche Mr. Lindley. Ein Hotelroman« (Foto: Barbara Fellgiebel)

So lerne ich Artur Becker und seinen »Hotelroman« kennen, gefolgt von Severin Groebner, dem in Frankfurt lebenden österreichischen Kabarettisten, der »Das Lexikon der Nichtigkeiten« geschrieben hat. Der will von A bis Z jeweils die erste Geschichte vorlesen und beginnt mit Abendland, das, gefolgt von Bayern, das. Noch ehe er zu Cyberwar, der, kommt, sind 20 seiner 60 Minuten verstrichen. Ich habe nicht Geduld, die.

Jajaja. Ist wichtig. Total. Sicher, sicher, sicher … aber ich hab jetzt echt keine Zeit, mich mit so einem Scheiß aufzuhalten. (Erster Eintrag unter G)

Sonntag, 14. Oktober 2018

Kleiner Eindruck der Preisverleihung in der ehrwürdigen Paulskirche (Foto: Barbara Fellgiebel)
Kleiner Eindruck der Preisverleihung in der ehrwürdigen Paulskirche (Foto: Barbara Fellgiebel)

Der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche wohne ich auch diesmal bei, muss mir meinen Platz aber erst erkämpfen. Die Stadt Frankfurt hat beschlossen, statt der bisher üblichen 900 Personen aus Sicherheitsgründen nur 700 zuzulassen.

Deutschland sollte nach Ansicht der Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, Aleida und Jan Assmann, sein kulturelles Gedächtnis erweitern. Es sei erschütternd, dass es hierzulande noch kein wirkliches Migrationsmuseum gebe. »Deutschland muss sich als Einwanderungsland neu erfinden.« Bisher gebe es nur lokale Ansätze in diese Richtung. Der Ägyptologe Jan Assmann (80) und seine Frau Aleida (71) haben sich unter anderem mit der Erinnerungskultur von Gesellschaften beschäftigt – vom alten Ägypten bis zur Gegenwart.

Ein würdiger, rundum gelungener Abschluss einer sehr ernsten, nicht gerade vor Übermut und Zuversicht überquellenden Buchmesse.

Bücher und Hörbücher auf die ich mich freue:

  • Nora Krug: Heimat
  • Frido Mann: Das Weiße Haus des Exils
  • Nino Haratischwili: Die Katze und der General
  • Dunja Hayali: Haymatland
  • Svenja Flasspöhler: Die potente Frau
  • Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt – eine Philosophie der Pflanzen
  • Judith Kerr: Geschöpfe
  • Helene Hegemann: Bungalow
  • Wolf Haas: Junger Mann
  • Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der zurückkam, um die Welt zu retten
  • Severin Groebner: Lexikon der Nichtigkeiten
  • Nico Semsrott: Der Kalender des Scheiterns
  • Benedict Wells: Die Wahrheit über das Lügen
  • Piet Weber: Ohne dich ist manchmal auch ganz gut

Barbara Fellgiebel

Barbara Fellgiebel bereist Buchmessen und unabhängig Literaturfestivals und teilt ihre subjektiven, respektlosen Beobachtungen den Besuchern des literaturcafe.de mit. Sie können sie unter alfacult(at)gmail.com erreichen oder unter dem Beitrag Ihren Kommentar abgeben.

 

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1 Kommentar

  1. Und wieder ein Fest mit Barbara Fellgiebel. Die Nachlese zur Buchmesse ist: klug und empathisch, witzig, machmal respektlos direkt und in ihrer Subjektivität und dem gelegentlichen leisen (manchmal lauteren) Sarkasmus ausgesprochen wohltuend. Jede Menge Informationen gibt es, die neugierig machen auf Neuerscheinungen, auch wenn uns ein “erster Eintrag unter G” erspart geblieben ist … (Danke dafür!) Viele Fotos als Ergänzung machen die Nachlese perfekt und schon jetzt gespannt auf 2019: Norwegen!

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