
Der zweite Roman der US-amerikanischen Autorin Kathryn Scanlan entführt in die raue, brutale Welt des Galopprennsports. Boxenstart ist ein literarisches Werk, das mit pointierter Sprache und einer starken Protagonistin begeistert.
Warum lesen wir? Um in unbekannte Welten einzutauchen, dürfte von vielen Menschen als ein Grund genannte werden. Solch ein Eintauchen gelingt eindrucksvoll mit »Boxenstart«, dem zweiten Roman der US-amerikanischen Autorin Kathryn Scanlan, der 2024 mit dem Gordon Burn Prize für innovative Literatur ausgezeichnet wurde. Der Leser wird mitten hineingezogen in die Welt des Galopprennsports, erzählt durch die Augen der Pferdetrainerin Sonia aus Iowa.
Im Nachwort erklärt Scanlan, dass ihr Roman fiktiv sei, inspiriert von persönlichen Telefongesprächen mit einer realen Sonia, die als Ich-Erzählerin auftritt. Das Ergebnis: ein knapp 170 Seiten umfassendes Werk, das in kurzen, fragmentarischen Kapiteln die Chronologie von Sonias Leben nachzeichnet – von Begegnungen mit Tieren und Kollegen bis zu den Härten des Alltags.
Aus den Mosaikstücken formt sich ein eindrückliches Bild: Sonia lebt für den Rennsport und die Tiere, voller Leidenschaft, Hingabe und Ehrgeiz. Als Nomadin in der »Bubble« des Pferderennsports wechselt sie Ställe, zieht von Rennbahn zu Rennbahn und schläft in Autos, Pferdeboxen und Trailern. Doch die Welt, in der sie sich bewegt, ist rau und brutal.
Unfälle gehören zum Alltag: Menschen und Tiere werden verletzt oder sterben. Es gibt Gewalt, Drogen, Alkohol und körperliche Erschöpfung. Dennoch kämpft Sonia unermüdlich weiter und macht sich in der männerdominierten Domäne einen Namen.
Die Sprache des Romans passt perfekt zur Szenerie: schnörkellos, rau, direkt und emotionslos – und doch voller Kraft. Dennoch erzeugt die Autorin viel Emotionen beim Lesen, obwohl die Schreibregel »Show, don’t tell« außer Acht gelassen scheint. Der Text lässt dem Leser Raum, das eigene Kopfkino zu aktivieren.
Ein Beispiel für Scanlans Schreibweise:
»Jamie war so dermaßen dürr. Er hinkte, und seine Zähne waren eine Katastrophe. Er hatte ein sanftmütiges Wesen, und wenn er etwas sagte, war er ein ganz scheuer nervöser kleiner Kerl. Und er stotterte ein bisschen.«
Oder eine besonders erschütternde Szene:
»Meine Freundin Bobbie Mackintosh galoppierte im Training einen Dreijährigen, und der Dreijährige scheute. Bobbies Fuß verhedderte sich in den Steigbügeln, das Pferd zog sie hinter sich her. Sie brach sich das Genick – ein Henkersbruch. Sie hatte erst vor einer Woche geheiratet.«
Scanlan schreibt diametral andres als beispielweise Sally Rooney. Zwar wendet auch Rooney die Regel nicht an, ihr Stil hingegen ist äußerst detailreich und beschreibend, während sie die Interpretation der Emotionen ebenfalls den Lesern überlässt. Dies sei aufgrund einer anderen Verbindung erwähnt: Rooneys Werke, auf Deutsch bei Ullstein (Claassen) verlegt, wurden von Zoë Beck ins Deutsche übersetzt, die wiederum gemeinsam mit Jan Karsten den CulturBooks Verlag leitet, in dem Boxenstart veröffentlicht wurde – übersetzt von Jan Karsten.
CulturBooks ist auf internationale und deutschsprachige Gegenwartsliteratur spezialisiert, die einen »einen eigenen Sound« besitzt und »über unsere sich ständig verändernde Welt« etwas zu erzählen hat.
»Boxenstart« passt ins Programm. Der Roman erzählt als besonderes literarisches Werk von der Welt der Pferderennen. Aber nicht nur. Es ist die beeindruckende Geschichte einer starken Frau in einer männerdominierten Domäne, die ihren Weg gegangen ist.
Juliane Hartmann
Kathryn Scanlan; Jan Karsten (Übersetzung): Boxenstart: Roman. Gebundene Ausgabe. 2024. CulturBooks Verlag. ISBN/EAN: 9783959882439. 22,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Kathryn Scanlan; Jan Karsten (Übersetzung): Boxenstart. Roman. Kindle Ausgabe. 2024. CulturBooks Verlag. 14,99 € » Herunterladen bei amazon.de Anzeige