Bei Anruf Text - Hermann Mensing liest
Ein Anruf genügte: Der Autor Hermann Mensing
las jedermann am 25.02.2002 persönlich aus seinen Texten vor


Nachtrag als Vortrag: Dank der Stadt Münster können Sie nun Hermann Mensing doch noch hören, auch ohne ihn anzurufen. Die LiteraturLine der Stadt Münster macht es möglich. Hermann Mensing liest seine Erzählung »Reise ins Glück« (14 Minuten). Zum Anhören benötigen Sie den kostenlosen RealPlayer (Download).

Direkter Link zur RealAudio-Lesung »Reise ins Glück«

Link zur LiteraturLine der Stadt Münster

Die Aktion war witzig und interessant: am 25. Februar 2002 hatten wir in der Zeit von 14 bis 20 Uhr (MEZ) an dieser Stelle eine Telefonnumer bekannt gegeben, unter der der Autor Hermann Mensing erreichbar war. Sie konnten ihn anrufen, Ihren Namen, den Titel eines seiner Werke und eine bestimmte Seitenzahl nennen und er las Ihnen diese Seite höchstpersönlich am Telefon vor.
     Die, die die Werke Mensings, die u.a. bei Rowohlt und Ueberreuter erschienen sind, nicht kannten, konnten sich vorab ausgiebig auf der Homepage des Autors informieren.
     Über 6.000 Newsletter waren einige Tage vor der Aktion verschickt worden, Mensing und der Ueberreuter Verlag wiesen ebenfalls prominent auf die Aktion hin.
     Der telefonische Ansturm konnte beginnen, der Autor war vorbereitet:

Die Chronik des Mensing-Tags beim Literatur-Café
Von der Feigheit des Internet-Spanners

9:40
Mit leichtem Bauchgrimmen warte ich, dass die Zeit vergeht. Ab 14 Uhr lese ich jedem vor, der mich anruft. Und warum? Aus Eitelkeit? Geltungssucht? Aus Liebe zu den Menschen?

11:41
Alles was lesbar ist, liegt bereit. Die Zweifel wachsen.

14:05
Einige Aufregung im Vorfeld, denn ich habe unser uraltes Telefon angeschlossen, um nicht Gefahr zu laufen, dass die Akkus unseres mobilen Gerätes versagen. Und - funktioniert das alte noch? - Ja. Das Freizeichen ist da. Ich führe ein Gespräch mit meiner Frau. Die Verständigung ist tadellos. - Wird jemand anrufen? - Ich zweifle. Die Zugriffe auf meine Webseite haben sich - seit unsere Aktion vor fünf Tagen auf der Webseite des Literatur-Cafés angekündigt wurde - nicht wesentlich erhöht, obwohl doch die tägliches Zugriffe auf die Seite des Cafés um ein vielfaches höher sind, als die monatlichen auf meiner. - Das also ist gesicherte Erkenntnis. - Und hier sitze ich nun, Prinz auf der Erbse und warte, ob sich die Spanner des Internets aus ihren Verstecken trauen.

14:12
Heute erscheint die Welt in Mausgrau, die vorsichtigste aller Farben, die sowohl bei Tag als auch bei Nacht Schutz bietet. Hinzu kommt feiner Regen.

14:25
Der Tisch war schon vor Stunden gedeckt. Die Anthologien liegen im Halbkreis vor mir, meine Geschichten darin mit Lesenzeichen markiert. Meine bei Ueberreuter erschienenen Romane liegen rechts, die unveröffentlichten auf meinem Schreibtisch im Arbeitszimmer. Außerdem habe ich eine Liste vorbereitet, in die ich Anrufer eintragen werde. Zeit. Name. Text.

14:44
Der Wartende bevorzugt die Horizontale. Er ist das Warten seit langem gewöhnt, aber dieser Fall ist ein besonderer Fall. Dieses Warten gilt dem Verborgenen. Das alltägliche Warten dem Offensichtlichen: dem Verrinnen der Zeit.

15:00
Die erste Stunde ist vorüber, meine dunklen Ahnungen scheinen sich zu bestätigen.

15:10
Während die Zeit tropft, übe ich professionelles Abheben des Hörers. Ja. Mensing. Sie sind gar nicht dran? Sie wollen nicht hören. Na bitte! Ich wusste es doch. Danke. Auf Wiederhören.

15:20
Sind Schriftsteller gefährlich? Muss man fürchten, eines Vergehens überführt zu werden, wenn man sie anruft? Muss man der Wahrheit ins Auge blicken oder schreckt schon die Vorstellung, dass es lebende Schriftsteller gibt, dass nicht alle längst unter der Erde vermodern? - Wer weiß. Hier sei gesagt, dass lebende Schriftsteller nur darauf warten, dass man sie liebt.

16:05
Die ersten eineinhalb Wartestunden ins Netz gestellt. Rechtfertigungsstrategien entwickeln sich. Etwa: ist der gemeine Internet-Spanner nicht in Wirklichkeit nachtaktiv? Nach dem Abendessen etwa, wenn er seiner Frau weis macht, er habe noch zu arbeiten? Und ist nicht statistisch verbürgt, dass mehr als 90% aller Internet-Zugriffe Mördertitten, feuchten Mösen, geilen Hausfrauen von nebenan und blonden jungen Studentinnen gelten? - Ja, das ist verbürgt. Wo, fragt man sich, bleibt da der literarisch interessierte Internet-Spanner (der natürlich auch Sex-Surfer sein kann)? Bevorzugt auch er späte Stunden? Ist er Lehrer, der graue Nachmittage für sein Leben gern verschläft? - Ich weiß es nicht. Ich hoffe. Und so hoffe ich mich in die dritte ereignislose Stunde. Einem grandiosen Misserfolg entgegen.

16:20
Seit etwa 17 Monaten bin ich mit meiner Webseite on-line. 3.205 Menschen haben sie seitdem besucht, aber das feedback darauf ist an zwei Händen abzählbar. Das hat mich von Anfang an erstaunt und erstaunt mich noch immer. Stützt das meine These des gern anonym bleibenden Internet-Spanners? Des flüchtigen Betrachters? Ist jeder Text im Internet also ein verlorener Text, sei er noch so groß geschrieben? Geht es im Netz nur um Bilder? Ist die Weigerung des Internet-Surfers, seine Anonymität zu verlassen, der Beweis, dass das Buch nicht zu schlagen ist? -

Zweieinhalb Stunden sind vorüber. Das Kribbeln im Bauch hat nachgelassen. Ich bin bester Stimmung. Ich sitze die Zeit ab, ohne bezahlt zu werden, ich reihe einen Satz an den nächsten und freue mich auf den Dienstag. Morgen nämlich lese ich vor lebenden Menschen.

16:50
Der einzig Sprechende in diesem Raum ist unser Wellensittich. Auch er, wie ich, Wartender. Seit sieben Jahren hockt er auf seiner Stange, balzt einen Spiegel an und vergisst Mal um Mal, dass Sex mit Spiegeln unmöglich ist. Gerade aber habe ich mit ihm eine Vereinbarung getroffen. Sollte das Telefon, auf das ich nun seit fast drei Stunden starre und das offenbar seine Sprache verloren hat, heute tatsächlich noch zu sprechen beginnen, wird er für mich antworten. Was immer der Anrufer sich auch wünschen wird, die Geschichte, die unser Wellensittich ihm vorliest, wird heißen: Komm Karli. Karli Karli komm.

17:12
Man müsse doch mal bedenken, wer denn eigentlich zu Lesungen gehe, sagt meine Frau, offensichtlich bemüht, mich aus dem düsteren Tal der Enttäuschung zu befreien. - Niemand, antworte ich gut gelaunt, oder so gut wie niemand. - Siehst du, sagt sie, und deine Telefon-Aktion ist ja noch zehn Nummern härter. Hier ist man mit dem Autor ja sozusagen allein. - Ja, sage ich, klar, Härtegrad III, aber wann hat man sonst schon einmal diese Gelegenheit? - Meine Frau lacht. Ist er denn gar nicht enttäuscht, denkt sie, und weil ich alles, was sie denkt, längst weiß, greife ich ihr an ihre Lieblingsstelle. Worauf wir lachen. -

Ja, ihr Weicheier, mit euch hatte ich auch nicht gerechnet. - Aber wo bleiben die Hartgesottenen? Die Ausgekochten? Die sich vor nichts fürchten? If life get's boring - risk it!!!

17:30
Karli Karli ist bereit.

17:59
Seit niemand mehr anruft, hat sich die Geburtenrate im vereinten Deutschland ein wenig erholt. Bedeutet das, dass alle es tun, während ich hier wie blöde sitze, es nicht tue und darauf warte, dass die andern endlich aufhören es zu tun, und mich anrufen??? - Wenn es so ist, will ich gern noch einen Augenblick warten. Aber hecheln Sie mir nicht ins Ohr, ja!!!

18:04
Nennen werde ich die Chronik der laufenden Ereignisse nicht etwa »Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich!!!« - nein, ich werde den Schwarzen Peter verschieben. Das hält mich schuldlos, und beschämt die anderen. Titel daher: Von der Feigheit des Internet-Spanners.

18:05
Rrrrrrrrrinnnggg!!!! - Ja, Mensing. - Ach, Sie? - Ich hatte schon gar nicht mehr mit Ihnen gerechnet. Ja. Gern. -

Fake oder Nicht-Fake???

Fragen stehen im Raum. Große gewichtige Fragen. Etwa: soll ich den berühmten Kreuzschnitt ansetzen? Soll ich den Doppelknoten knüpfen, den nächsten Dachbalken suchen, schließe ich mein Bügeleisen kurz oder stürze ich mich in die eisigen Fluten des Meckelbaches? - Noch weiß ich nicht, wofür ich mich entscheide oder was wahr oder unwahr ist. - Gesichert ist nur, dass die fünfte Stunde begonnen hat. Macht bisher € 1024.

PS.

Es ist dunkel. Sie können ihre Deckung verlassen.

18:25
Die Welt bereitet sich auf den Abend vor. Ich werde umziehen. Ich werde den runden Tisch im Wohnzimmer verlassen, den ich seit 14:00 besetzt halte und mich in meinem Arbeitszimmer verbarrikadieren. Dort werde ich mich für eine der oben genannten Todesarten entschließen. Neu hinzugekommen sind: Tot-Kiffen. Tot-Saufen. Tot-Ficken. Tot-Onanieren. Nicht ganz ohne Reiz, das werden Sie zugeben müssen. Aber wir werden sehen. Bis dahin, aloha!!!!

19:02
Die letzte Stunde. Die Stunde des Abschieds.

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Still und zurückgezogen verbrachte Herr M. die letzten Stunden seines sinnlosen Lebens in Treue fest an der Seite seines geliebten Telefons. Mit ihm wird man ihn nun kremieren. Seine Asche wird man auf der Nordseeinsel Ameland verstreuen. Darauf freut er sich schon. Wie er als weiß-grauer Staub für Augenblicke über den in den Sandstrand gestanzten Wellen schwebt und im Nichts verweht. Das wird schön.

19:21
Drei Gold: Drei Silber: Drei Bronze: Für M. Wer wollte da klagen. Wer wollte das behaupten, niemand habe angerufen. Alle haben angerufen. Ununterbrochen klingelte das Telefon. Nur die Hartnäckigsten kamen durch. Nur die Mutigen, die Wagemutigen ertrugen die Nähe des Dichters M. Und noch ist Zeit. Noch bleiben 39 Minuten. Also....

19:40
Außer Konkurrenz (da bekannt) riefen an: Wolfgang T., Betreiber des Literatur-Cafés. Ich las Seite 13-15 aus der »Sackgasse 13«. Gleich darauf Stefan V. Mache manchmal Musik mit ihm. Las aus »Meier der Große«. Vor wenigen Augenblicken dann noch Gesine R. Las den Anfang von »Flanken, Fouls und fiese Tricks«. Und alle wollten mich trösten. Dabei brauche ich gar keinen Trost.

19:54
Verschwiegen bleiben die 4.000 Zugriffe, die ich mit Texten aus zwanzigjähriger Arbeit verwöhnte. Manchem flüsterte ich nur das Wort »Literatur« zu, mehr Zeit blieb nicht.

20:00
Der Vorhang fällt und alle Fragen bleiben offen.

Hermann Mensing
25.02.2002

Dieses Protokoll finden Sie auch im Internet-Tagebuch von Hermann Mensing. Mehr davon gibt's auf www.hermann-mensing.de in der Rubrik Notizen.

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