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Textkritik: Beim Lesen im Flow

Textkritiker Malte Bremer baut diesmal ein Gedicht um und empfiehlt am Ende das Ende zu streichen.

Die Gabel

von Jürgen Ambros
Textart: Lyrik
Bewertung: 2 von 5 Brillen

Eine glänzende Gabel:
Vier blinkende Zinken,
die zu stechen
versprechen,
um die leckeren Speisen
meinem Schlund zuzuweisen,
meinem Mund zuzuführen!

Ich möchte sie spüren
und kratze mit ihr
zu meinem Entzücken
ganz sanft meinen Rücken.

Das Kerzenlicht spiegelt
sich in ihren Flächen,
die griffigen Kanten
am gerundeten Griff,
gaben ihr einmal
den letzten Schliff.

Villeroy und Bloch
streichelt sie meine Lippen
und jeder Koch,
will an ihr nippen
träumt gierig von meinem Gabelschatz
und denkt:
»Bei mir wäre auch noch Platz!«
Doch nichts da,
die göttliche Gabel ist mein.
Ich wickle sie sanft in das Tischtuch hinein.

© 2017 by Jürgen Ambros. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Fängt gut an, hat schrägen Humor – aber am Ende wird der durchaus brauchbare Anfang zerstört. Gerade so, als ob das lyrische Ich die Lust verloren hat. Man & frau kann aber durchaus daraus lernen, sofern frau & man das will.

Die Kritik im Einzelnen

Dieses Gedicht lässt sich problemlos in Abschnitte unterteilen. Das habe ich im Folgenden versucht. Dann sollte das Vermaß durchgehalten werden, sodass man & frau beim Lesen in einen Flow kommt. Störungen in diesem Flow sollten bewusst gesetzt werden, wenn es was ganz Besonderes gibt. Da gibt es offenbar einiges zu tun. Auch das habe ich versucht!

Auf geht’s!

Zunächst bemängele ich, dass bereits in der zweiten Zeile das Versmaß verändert wurde: Das zweisilbige Eine stört ungemein! Man könnte das Gedicht in eine Ode verwandeln, also in ein Loblied auf eine Gabel (was es ja im Grunde auch ist). Dann sähe die erste Strophe folgendermaßen aus:

Oh, glänzende Gabel!
Vier blinkende Zinken,
die Stechen versprechen,
um leckere Speisen
dem Schlund zuzuweisen,
dem Mund zuzuführen.

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Bliebe es bei der Ode, ließe sich jetzt noch eins drauf setzen, indem das Lyrische Ich sich direkt an die Gabel wendet:

Ich möchte Dich spüren
und kratze mit Dir
zu meinem Entzücken
ganz sanft meinen Rücken.

Nach mit Dir entstünde eine Irritation, denn bislang endete jede Zeile unbetont! Hier fehlt jetzt eigentlich etwas – und genau das ist dann gewollt, denn Gabeln werden gemeinhin nicht zum Rückenkratzen verwendet. zurück

Das Kerzenlicht spiegelt
sich in ihren Flächen,
die griffigen Kanten
am gerundeten Griff
gaben ihr einmal
den letzten Schliff.

Hier beginnen inhaltliche Probleme: Wieso spiegelt sich das Kerzenlicht nur an den Flächen und nicht auch an den Kanten? Oder ist gemeint, dass die griffigen Kanten sich ebenfalls am gerundeten Griff spiegeln? Wieso spiegelt sich das lyrische Ich im Zeitalter der Selfies nicht selbst? Wie wäre es z. B. mit Folgendem:

Ich seh mich gespiegelt in
all Deinen Flächen,
sogar in den Kanten
entdecke ich …
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Jetzt bricht leider alles zusammen: Versmaß, Inhalt, Logik, Zusammenhang – sogar der Herstellername Villeroy & Boch, denn Erst Bloch ist sicher nicht gemeint! Da hilft nur eins: Komplett streichen! Und vielleicht ersetzen durch einen Ausruf vom lyrischen Ich:

»He! Finger weg! Das ist MEINE Gabel! Such Dir woanders eine!« zurück

© 2018 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.