Wellers Wahre Worte am Café Tisch
Mai 2005 - Die monatliche Kolumne von Wilhelm Weller


Frühlingsmetamorphosen

Über Fauna und Flora ins Nirwana

Wilhelm Weller


Es begann eigentlich damit, dass ich in einer Dose Leberwurst eine halbe Schweinszehe entdeckte, die andere Hälfte hatte ich schon unwissentlich verschluckt.
     Seither ekelte ich mich vor Fleisch. Ich beschloss, Vegetarier zu werden.
     Zwei Jahre später, während einer Geschäftsreise, traf ich zufällig meinen alten Schulkameraden Kurt in einer Nachtbar in Krakau. Ich hatte ihn aufgrund seiner nun sehr kräftigen Statur zunächst gar nicht wiedererkannt.
     Er erzählte mir, dass er nach dem Abitur den Molkereibetrieb seiner Eltern übernommen hatte. Nach einigen Wodkas intus plauderte er aus dem Nähkästchen. Ob ich denn wisse, wie der satte Gelbton von Kochkäse zustande komme. Keine Ahnung, sagte ich, oder doch: Das hat wohl mit der Milch zu tun!
     »Denkste!«, sagte Kurt, »von wegen!« »Kälberurin!« Es dauerte etwas, bis ich ihm Glauben schenkte. Jedenfalls beschloss ich an diesem Abend, Veganer zu werden.
     Der Verzicht auf Milch, Käse, Eier, Honig und Hefe fiel leicht. Meine Sinne wurden schärfer, meine Sensibilität steigerte sich. Ich aß mehr und mehr Grünzeug, mir schmeckte schließlich auch frisches Gras.
     Irgendwann merkte ich, dass Sonnenlicht auf mich eine Wirkung ausübte, die über die normale gute Laune, wie sie sich bei schönem Wetter einstellen kann, weit hinausging.
     Ich wuchs dann regelrecht über mich hinaus, ich blühte auf.
     »Du kommst mir heute so groß vor.«
     »Machst Du ein Kieser-Training
     »Sag mal, gestern hattest Du doch noch eine Glatze
     Typische Bemerkungen, die ich an solchen Tagen hörte.
     Auch mein Hunger ließ mehr und mehr nach, im Grunde brauchte ich nur noch Wasser.
     Meine Frau war über meine Verwandlung nicht wirklich unglücklich, sie schätzte meine Genügsamkeit. Meine sich allmählich grün verfärbende Haut war allerdings für sie (und auch für mich) gewöhnungsbedürftig.
     Erst im letzten November ließ ich mich ärztlich untersuchen. Ich vermutete zunächst eine saisonale Depression. Da sich jedoch diverse körperliche Störungen einstellten, Mattigkeit, Haarausfall, eine in kurzer Zeit faltig gewordene Haut, vertraute ich mich einem Internisten an.
     Er war über das erst zwei Wochen später vorliegende Ergebnis zahlreicher Untersuchungen und Tests nicht weniger überrascht als ich selbst: Mein Körper produzierte Chlorophyll!
     Ich erinnere mich noch, wie ich mit bangem Gefühl in seiner Sprechstunde saß. Er sah mich lange und prüfend an, räusperte sich mehrmals, bis er dann ohne weitere Umschweife zur Sache bzw. zur Diagnose kam: »Ich will mich kurz fassen: Sie sind - natürlich nur ernährungsphysiologisch - eine Pflanze.« Er räusperte sich nochmals: »Aber sonst sind Sie völlig gesund!«
     Seiner Meinung nach hatte mein exzessiver Veganismus, vor allem der übermäßige Verzehr von frischem Gras, eine seltene Genmutation, vielleicht sogar einen Gentransfer bewirkt.
     Ich verließ seine Praxis ohne Rezept und ohne Überweisung und wusste nun, dass ich mich als Teil der Natur ihrem Wechsel, vor allem ihrem jahreszeitlichen Wechsel, aussetzen und anpassen musste.
     Konsequent suchte ich nun das Licht. So wie es hell wurde, setzte ich mich an das Fenster und ließ mich von den flach einfallenden Strahlen der Wintersonne erwärmen.
     Stundenlang, Tag für Tag, harrte ich so still und stumm aus, gelegentlich gab mir meine Frau etwas Wasser. Abends ging ich regelmäßig in ein Solarium. Mein Befinden besserte sich, zumal es nun auf den Frühling zuging. Auf feste Nahrung verzichtete ich vollständig, sie bereitete mir nur Übelkeit.
     Im April dann ein dramatischer Wandel. In kurzer Zeit war die verloren geglaubte Haarpracht wieder zurück, ich fühlte mich frisch und munter wie selten zuvor.
     Nur arbeiten mochte ich nicht mehr. Warum auch, wofür brauche ich noch Geld, wenn mir die Natur großzügig alles gibt, wonach mein Innerstes verlangt? Und brauche ich noch eine Wohnung und ein Auto, wenn ich ohnehin im Freien am glücklichsten bin, irgendwo sitzend, wie Buddha kontemplativ in mich selbst versunken?
     Meine neue Lebensweise bringt mich dem Nirvana näher, zumal sich der soziale Stress mehr und mehr verflüchtigt.
     Seit ich denken kann, gab es ständig jemanden, der etwas von mir erwartete, tu dies, tu jenes, tu das.
Wie erlösend ist es nun, in Ruhe gelassen zu werden. Ein Gefühl der Harmonie erfüllt mich, ich fühle mich eins mit der Schöpfung und all ihren Geschöpfen.
     Mit einer Ausnahme: Kühe, die mir wegen ihrer friedlichen Natur immer lieb waren, schnappen neuerdings aggressiv nach mir, wenn sie in meine Nähe kommen. Aber was solls, sage ich mir dann, wenn man sonst keine Probleme hat ...

Wilhelm Weller


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