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Text und Fotos von Birgit-Cathrin Duval |
»Churchill - entweder man liebt es oder man hasst es«, erzählt meine Sitznachbarin Denise, eine zierliche Frau mittleren Alters, mit Nasenstecker und Ohrringen. Ihr moderner Kurzhaarschnitt und das strähnig gefärbte Haar passen gar nicht so recht in das Bild, das man mit Leuten aus dem rauen Norden assoziiert. |
Churchill, ein kleiner Ort, hoch im Norden Kanadas an der Hudson Bay gelegen. Weit entfernt von Manitobas Provinzhauptstadt Winnipeg. So weit, dass nicht einmal eine Straße nach Churchill führt. Wer in die abgeschiedene Siedlung möchte, dem bleibt die Wahl zwischen Schiene oder Luft. 1600 Kilometer. Zweieinhalb Tage mit dem Zug, oder zweieinhalb Stunden mit einem kleinen Propellerflugzeug, in dem ich jetzt neben Denise sitze. Die Einwohner haben gelernt, mit den Eisbären zu leben. In jedem Auto steckt der Zündschlüssel, die Haustüren bleiben unverschlossen, erzählt Denise weiter. Damit man sich im Falle eines Falles in ein Haus oder Auto retten und wegfahren kann. »In all den zwölf Jahren ist mir das sechsmal passiert, dass morgens mein Auto weg war«. Angst vor einem Autodiebstahl hat hier, wo eh jeder jeden kennt, keiner. Wozu auch. Aus Churchill kommt kein Auto heraus - es sei denn mit dem Zug. Aber der kommt auch nur dreimal in der Woche. Der Autotransport übersteigt mit 700 Dollars auch oft den Wert desselben. Kein Wunder also, dass in und um Churchill so viele Autowracks lagern. Landeanflug auf Churchill. Es schneit. Eine Landschaft, so einsam wie auf dem Mond. Denise weist mich an, aus dem Fenster zu sehen - man könnte vielleicht einen Eisbären entdecken. »Jaja, denke ich«, schaue aber trotzdem angestrengt aus dem Fenster. Das gibst doch nicht, ist mein nächster Gedanke, als ich kurz darauf tatsächlich einen der weißen Riesen entdecke und mit meiner Beobachtung für Aufregung unter den schlaftrunkenen Passagieren sorge. Ankunft in Churchill. Der Wind bläst um die Ohren als wir zum Flughafengebäude marschieren. Es ist, gemessen an mitteleuropäischen Verhältnissen, saukalt. Die Geschichte des Städtchens reicht zurück bis 1700 vor Christus. Die ersten Europäer erreichten um 1620 die Hudson Bay. Jens Munk, ein dänischer Seefahrer leitete die erste Expedition, um eine Nordwest Passage in den reichen Orient zu finden. Gefunden hat er sie nicht, dafür schlug sich die Mannschaft dort durch den harten Winter, wo sich heute die Siedlung befindet. Richtigen Aufschwung erlebte das 1689 als Außenposten der Hudson Bay Company gegründete Churchill mit Pelzhandel. Die Wirtschaft florierte zu Beginn der 30-iger Jahre mit dem Bau der Eisenbahnlinie und dem Hafen, von dem aus Weizen mit Containerschiffen nach Europa transportiert wurde. Heute lebt Churchill hauptsächlich vom Tourismus. 10.000 kommen jeden Herbst hierher, um bei der größten Eisbärensafari mit dabei zu sein. Die Deutschen unter ihnen sind schnell ausgemacht: man erkennt sie an den leuchtenden Outdoor-Jacken, funktionellen Rucksäcken und Gore-Tex-Stiefeln. Keine andere Volksgruppe ist so gut für das arktische Abenteuer gerüstet. Japaner, sonst vorherrschende Gruppen auf sämtlichen Kontinenten, sind selten. Die kommen hier fast nur alleine her, weil sie sich hier endlich einmal als Individualtouristen fühlen, erfahre ich später von einem Einheimischen. Früh morgens klappern Busfahrer alle Hotels ab und bringen die Polar Bear Watchers zu den Tundra Buggys. Mit den großen gepanzerten Fahrzeugen auf überdimensionalen Reifen geht es in den größten arktischen Drive-Inn-Zoo. Ausgestattet mit Toilette und Heizung, Bordverpflegung inklusive. Wer will, kann sich auch für ein paar Nächte in der Tundra Buggy Lodge, einer Art Wagenhotel, einmieten und dort sogar nachts mittels Scheinwerfern die Tiere beobachten. Abends beim Bier in einer der Kneipen kann man sich von den Einheimischen Bärenlatain aufbinden lassen. Trotz der vielen Bären ist es erstaunlicherweise zu wenigen Todesfällen gekommen. Zuletzt 1982 als ein alter Mann nachts in einem abgebrannten Hotel noch ein paar Hamburger im Kühlschrank fand und damit buchstäblich zum gefundenen Fressen für den Eisbär wurde, erzählt Mike Reimer, der damals den Eisbär erschoss. Ab Mitte Oktober gilt in der Stadt eine Art Ausnahmezustand. Kinder werden mit dem Bus zur Schule gefahren, Polizei und Park Ranger sind unentwegt auf Patrouille. Grüne Schilder mit der Aufschrift »Polar Bear Alert« warnen vor möglichen Gefahrenzonen, wo sich Eisbären aufhalten könnten. Ist einer gesichtet, wird unverzüglich 675-2327 gewählt - die Eisbärennotrufnummer. Eisbären auf der Müllkippe oder in der Nähe der Stadt stellen eine potenzielle Gefahr dar. Sie sind hungrig und auf der Suche nach Fressbarem unberechenbar. Doch noch ist die Bay nicht zugefroren und die Bären werden immer unruhiger - und hungriger. Touristische Helikopterflüge werden knapp - denn die Piloten müssen vorrangig pelzige Fracht befördern. |