Weihnachten kommt …
von Christina Steiner
Du stehst am Fenster und schaust hinaus in den nebligen Tag.
»Weihnachten kommt«, denkst du, »da sollte man doch froh im Herzen sein und sich freuen.«
Doch eines ist klar: Freude empfindest du keine. Du fühlst dich vielmehr erdrückt von den Erledigungen, die noch vor dir liegen. Du fühlst dich müde und deprimiert, weil draußen alles so grau ist. Du fühlst dich hin- und hergerissen zwischen: »Das muss noch vor den Feiertagen erledigt sein!« Und: »Das wird mir nicht weglaufen. Ich erledige es im neuen Jahr.«
Ja, und damit bist du beim nächsten Thema: Dem neuen Jahr! Was gibt es da noch zu denken und zu tun! Und vor lauter Denken und Tun kommst du nicht dazu, dich zu freuen. Worüber denn auch! Ja, worüber eigentlich? Du hast es vergessen.
»Hast du es überhaupt jemals gewusst?«
Dieser letzte Gedanke – der kam nicht von dir. Dieses: »Hast du es überhaupt jemals gewusst?«, das war nicht dein Gedanke. So etwas würdest du niemals denken. Denn es weiß doch jedes Kind, dass... ja, was eigentlich?
Und wie du so dastehst und sinnierst, da kommt plötzlich ein: »Soll ich es dir zeigen?«, in deinen Kopf.
»Soll ich es dir zeigen?«
Es ist wie eine Stimme, die du hörst, obwohl niemand da ist.
Und da dir gerade jede Beschäftigung recht ist, beschließt du, der Stimme zu antworten. Und als du gerade dabei bist, dir eine Antwort zu überlegen, hörst du schon wieder ihre Worte – oder sind es bloß Gedanken? Du hörst: »Komm einfach mit mir. Ich zeige dir etwas. Du brauchst mir einfach nur zu folgen. Folge mir einfach!«
Du wirst hinaus geführt aus deiner Wohnung, hinaus aus deinem Haus, durch die Gegend hindurch, die du so gut kennst. Wie seltsam, dass dir nicht kalt ist, so ohne Mantel, Mütze und Schal! Du gehst weiter und weiter, bis du in eine Gegend kommst, die dir gar nicht mehr vertraut ist. Doch du fürchtest dich nicht, folgst einfach immer nur der Stimme nach.
Es begegnen dir Menschen, die dich freundlich betrachten, doch es werden immer weniger; es sind auch keine Häuser mehr da, und schließlich auch keine Straßen. Du gehst einen Weg entlang, der eigentlich gar kein Weg ist – du folgst einfach der Stimme, und bald stapfst du durch weichen weißen Schnee.
Wie du deinen Blick hebst, kannst du in der Ferne etwas erkennen – es sieht aus wie ein Wald, in dem es glitzert und funkelt. Das kann doch nicht allein der Schnee sein, der da so wunderbar leuchtet? Im Näherkommen bemerkst du, dass es Lichterketten sind, die sich um die Bäume schlingen, strahlende Lichterketten und dazwischen helle Sterne und Kometen. Sie strahlen ein wunderbar helles Licht aus, und die Luft ist erfüllt von einem zarten Ton, als wären tausend feine Glöckchen angeschlagen worden.
Immer geführt von der Stimme, tauchst du in den Wald ein. Staunend durchschreitest du Lichtung um Lichtung, den Blick nicht wenden könnend von dem Leuchten der Bäume, die Ohren umschmeichelt von zartem Klingen.
Doch allmählich wirst du unzufrieden. Du wünscht dir, dass etwas geschehen möge. Irgendetwas Erstaunliches, etwas Überraschendes und Schönes.
Und noch ehe du deinen Wunsch richtig formen konntest mit deinen Gedanken, da erkennst du ein Stück weiter vorne etwas wahrlich Erstaunliches. Da steht, inmitten all der glänzenden Pracht, etwas noch viel Prächtigeres: es ist eine weiße Kutsche von übermächtiger Größe, die alles Strahlen noch weit übertrifft; eine Kutsche wie von Riesenhand geschaffen aus leuchtendem Schnee und Eis. Noch stehen die davor gespannten Schimmel still, nur ab und zu wirft einer seinen edlen Kopf in die Höhe, scharrt leise wiehernd im Schnee, als könne er dein Näherkommen kaum erwarten...
... und du kommst näher, immer näher, ganz nah an das silbern funkende Gefährt heran... da öffnet sich mit einem leisen Ton die Kutschentür... eine Treppe wird herabgelassen... du steigst hinauf und betrittst das Innere, das du erwartest als eisigen Palast. Doch weit gefehlt: es ist ein geräumiges Gemach aus Samt und Seide, und du suchst dir das allerbequemste Sofa aus, auf dem du dich niederlässt. Es ist gerade der Platz neben dem Fenster, und du schaust hinaus. An der vorüberziehenden Landschaft erkennst du etwas überrascht, dass sich die Schimmel wohl schon in Bewegung gesetzt haben und dich immer tiefer hineinführen in ein dir noch unbekanntes Land.
Du fühlst dich wie ein König oder eine Königin - ja wie ein Kaiser oder eine Kaiserin, so erhaben und so gut, gerecht und wohlwollend gegenüber allem, was lebt.
Und seltsam, gerade als du diese erhabenen Gedanken denkst, als du diese erhebenden Gefühle fühlst, da nimmst du draußen in der Landschaft etwas ganz Merkwürdiges wahr: Wie wahllos verstreut über Hügel und Täler, liegen da bunte Pakete im Schnee. Es sind richtige Weihnachtspakete – sehen so aus, wie du dir richtige Weihnachtspakete vorstellst: Große und kleine Würfel oder Quader, ja auch pyramiden- und zylinderförmige Päckchen sind dabei, jeweils in farbiges, mit Kerzen, Sternen und Kometen verziertes Papier gepackt, geschmückt mit Tannenreisig, und zugebunden mit glänzenden goldenen und silbernen Bändern und Schleifen.
Es werden immer mehr und mehr, je weiter du fährst, und in dir entsteht der ganz kindliche Wunsch, doch eines dieser Pakete zu besitzen.
Und wie es an diesem Tag so üblich zu sein scheint, noch ehe du deinen Wunsch in Gedanken geformt hast, hörst du die Stimme, die dich immer noch begleitet, dir zuraunen: »Such dir doch eines aus!«
Du bist entzückt und presst deine Nase gegen die Scheiben, damit dir auch keines entgeht und du das beste wählen kannst. Vielleicht das große rote hinter dem Busch? Oder lieber das lila-glitzernde in den verschneiten Zweigen des Tannenbaums? Das mit der riesigen goldenen Schleife, die größer ist als das Paket selbst?
Wenn dir jetzt jemand raten könnte!
»Habe Geduld – es wird eines kommen, bei dem du keinen Zweifel mehr hast – dieses wird deines sein! Beobachte nur dich selbst, dann wirst du es wissen.«
Du tust, was die Stimme dir sagt, blickst nun gelassener hinaus und lässt alles gleichmäßig an dir vorüberziehen. Ein ganz feiner, kleiner Stich in deiner Brust macht dich wieder aufmerksam – aufmerksam auf ein großes, nachtblaues Paket, über das sich über und über die Schleifen und Kringel eines silbernen Bandes ergießen.
Es ist deines.
Und du bist kaum mehr überrascht, als es plötzlich vor dir liegt in deinem kaiserlich-königlichen Gemach. Auch wunderst du dich nicht, als die unzähligen silbernen Schleifen sich ganz leicht lösen lassen, eine nach der anderen, sodass du beginnen kannst, das nachtblaue Papier abzuschälen, um das Darunterliegende frei zu bekommen...
... und bist jetzt doch wieder verwundert. Denn unter der blauen Papierhülle findet sich eine weitere, verziert mit schimmernden Sternen und umwickelt mit einem breiten roten Band. Du entfernst die Hülle, um zu entdecken, was darunter liegt: Es ist ein ganz reizendes Papier, mit Englein verziert, und einer bunten Schleife versehen.
So fährst du immer weiter fort, eine Schicht um die nächste legst du frei, doch es ist, als würde sich gar nichts ändern.
Da erinnerst du dich an den Rat: dich selbst zu beobachten, um es schließlich zu wissen. Du beobachtest dich selbst und bemerkst, während du immer weiter auspackst, dass du dich gut fühlst. Es ist ein frohes, freudiges Gefühl, und es erfüllt dich immer mehr, je weiter du ins Innere deines Päckchens vordringst. – Jetzt ist das Paket nur noch ganz klein, und du beginnst die letzte Schnur zu lösen; es muss die letzte sein, so klein ist das Paket geworden. Du öffnest sie, und entfernst das Papier – und da, in genau diesem Augenblick, stehst du wieder daheim an deinem Fenster und schaust hinaus.
Du schaust hinaus und lächelst, weil du spürst: alles ist gut. Und du weißt: Alles war schon immer in Ordnung, wird es immer sein. Es ist die vollkommene Gewissheit des behüteten Kindes, das mit leuchtenden Augen vor dem Weihnachtsbaum steht; aufgehoben in der Einheit einer Welt, die ihm immer wiederkehrend dieses Fest bereiten wird. Aufgehoben in der Unveränderlichkeit höherer Gesetze, die es nicht durchschauen kann und nicht durchschauen muss, damit das Wunder geschieht bis in alle Ewigkeit.
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