Verkehrte Welt

von Klaus-Christof Hoffmann

Jetzt stand er hier, mitten in dieser neuen Stadt, diesem neuen Land, mitten vor dem neuen Kaufhaus und wusste eigentlich nichts anzufangen mit den vielen neuen, fremden Eindrücken, die ihn bestürmten. Kalt war es und nass anfang Dezember in diesem neuen Land. Er fror in seinem Hemd. Auch das war neu. Die Frau auf dem Sozialamt hatte ihm Geld gegeben für Kleider meinte er ihren etwas hilflosen Gesten entnommen zu haben. Was stand da auf diesem Formular gleich noch, ein so schrecklich langes Wort hatte er noch nie gesehen "Winterbekleidungsbeihilfe". Was dieses ohnehin viel zu lange Wort bedeutete, wusste er nicht, er hatte nur dem verzweifelten Gesicht der Frau entnommen, dass dieses Geld für Kleider war und die hatte er sich gerade gekauft. Ein neues, dunkelblaues Hemd, eine leichte weiße Hose und schöne luftige Schuhe. In seiner Heimat hätten sie gestaunt über die schönen neuen Sachen. "Teuer ist dieses Land" dachte er sich, aber nun - das Geld hatte gereicht. Er fror erbärmlich; - der nasskalte Wind trieb ihn weiter.

Eine Woche war er jetzt hier, hatte so viele Fragen, so vieles was er nicht verstand, und heute nun dass???!!! Überall hingen Tannenzweige über den Straßen mit kreuz- und sternförmig angeordneten Glühbirnen. Überall hatte man abgeschlagene Tannenbäume an Laternenpfähle gehängt und mit Glühbirnen behangen. Vielleicht hatte es mit der hier sehr früh hereinbrechenden Nacht zu tun und war als zusätzliche Beleuchtung für den Nachmittag gedacht, aber die Dinger branten den ganzen Tag und in den Geschäften hunderte echter und künstlicher Kerzen wiederum auf besagtem Tannengrün drapiert. Diese Art der Beleuchtung schien ihm schlichtweg Verschwendung zu sein, ein paar Leuchtstoffröhren mehr hätten es auch getan und in dieser ohnehin schon trostlosen Natur in der die Bäume nicht mal Blätter haben auch noch die grünen Tannen zu schlagen und ihr Grün an Drahtseilen über die Straßen zu hängen, oder in Schaufenster, weiß angesprüht zu legen wo es sowieso bald grau wurde und vertrocknete, dem vermochte er keine Logik abzugewinnen.

Voll war es in der City. Hunderte Innländer hechteten hinein in dieses neue Kaufhaus und kamen mit bunt eingepackten Paketen, meist auch wieder mit Tannenbäumen und Tannengrün verziert heraus. Sie sahen nicht fröhlich aus, diese Menschen, eher in Eile. "Warum kaufen die so viel" dachte er und eine gewisse, altbekannte Panik machte sich mulmig bei ihm breit "vielleicht gibt es ja morgen nichts mehr." Fröstelnd ging er weiter zu einem Platz voll mit Bretterbuden. "Aha", dachte er, "etwas vertrautes, doch Slums in so einem reichen Land?" Irgendetwas war auch anders. Die Buden standen penibel aneinander gereiht, gerade ausgerichtet. Alle sahen sie gleich aus; mit Holzschwarten verschalt und wie schon bei den Geschäften mit ebendiesem gerupften Tannengrün verziert von Lichterketten umkränzt. Hier wohnte niemand, hier bot man feil, ähnlich einem Bazar nur eben Dinge, die er nie zuvor gesehen hatte und die ihm allesamt unbrauchbar erschienen: "Decken mit Tannengrün, roten Kerzen darauf und goldenen Kreisen, viel zu klein alsdas man sich damit zudecken könnte, schimmernde Glaskugeln, Glasspitzen und Kinderpuppen mit Flügeln, geradeso wie bei Vögeln." Er ging weiter, vorbei an fetttriefenden, weißlichfahlen, vom Grill geschwärzten Schweinefleischwürstchen, in Öl gebratenen, ebenfalls fetttriefenden Kartoffelstäbchen und Baracken mit allerlei Gebäck eben wieder in den ihm jetzt schon hinlänglich bekannten Formen.

Ein nicht gerade angenehmer Geruch nach verdunstendem Alkohol und Zimt stieg ihm in die Nase. Er sah eine Schar von Menschen, die einen Stand umringten, weiße Plastikbecher in der Hand haltend aus denen sie ab und zu eine dampfende Flüssigkeit tranken. "Daher also kam dieser Geruch." Das man in diesem Land Alkohol trank war ihm schon aufgefallen, ganz legal, zu jeder Tageszeit, ja sogar in der Öffentlichkeit und fast ausschließlich Schweinefleisch aß; - aber das hier war neu, jetzt erhitzten sie den Alkohol auch noch und rissen sich förmlich um diese übel riechende Brühe. Ihn überkam ein leichter Brechreiz und er sah zu, dass er weiter kam.

Er hatte es nicht glauben wollen als ihm ein Freund in der Heimat erzählte, hier würden die Jugendlichen absichtlich Lumpen anziehen oder ganz verrückte Sachen, sich die Haare teilweise abrasieren oder neue drankleben und sich grell bemalen, doch jetzt sah er es mit eigenen Augen: Schwarze, hohe Lederstiefel, knallrote Hose, rote Jacke mit weißen Teddyfutter abgesetzt, einen silbernen Stock in der rechten Hand, angeklebte, weiße Watte im Gesicht und auf den Augenbrauen sowie eine rote Mütze mit weißem Bommel, auf dem Rücken einen Kaffeesack, gerade damit beschäftigt, Erwachsene und Kinder zu erschrecken. Kopfschüttelnd ging er nach Hause und dachte bei sich "wo bin ich hier eigentlich?"



© 1997 by Klaus-Christof Hoffmann. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.


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