Das kleine Mädchen mit dem großen Hut

 

Ich sitze im Zug, ICE 577 von Hannover nach Frankfurt. Ich schaue aus dem Fenster. Die Landschaft fegt an mir vorbei. Auf den Feldern liegt Schnee. Auch auf den kleinen Dörfern, an denen wir vorbeifahren, und über dem Wald. Die ganze Welt ist weiß. Weiß und friedlich. Der Zug gleitet leise über die Schienen.
     Auch die Menschen im Zug sind leise. Sie unterhalten sich nur murmelnd. Eine gewisse Ruhe liegt über der ganzen Welt. Die gewisse Art von Ruhe, die ich immer mit dem Schnee verbunden habe und wohl immer mit dem Schnee verbinden werde. Es ist, als ob sich, sobald sich draußen auf die Welt eine weiße, weiche Decke gelegt hat, auch auf die Herzen der Menschen ein Hauch Schnee legt. Dann wird alles ganz ruhig, der Lärm lernt das Schweigen. Draußen scheint die Sonne auf die weiße, weiche Welt. Der Zug gleitet leise durch den weißen, weichen Frieden.
     Dann erscheint plötzlich eine kleine Gestalt in der Landschaft vor meinem Fenster. Auf dem Bahndamm steht ein kleines Mädchen. Mit der einen Hand hält sie ihren großen, roten Hut fest. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie mich ansieht. Ich richte mich auf, um sie besser sehen zu können. Sie hebt die Hand und winkt mir schüchtern zu. Dann verschwindet der Zug in einem Tunnel, Dunkelheit umgibt mich.

Ein paar Wochen später sehe ich mit meiner Mutter alte Fotos an. Ich liebe es, alte Bilder anzusehen, mir die Geschichten erzählen zu lassen, die die Personen darauf erlebt haben. Ganz unten auf dem Boden der Kiste liegt ein kleines, vergilbtes Foto. »Winter 1919«, steht in altdeutscher Schrift auf der Rückseite, »Reise mit Mutter zu Tante Fi nach Frankfurt. Bild aus dem Zugfenster fotografiert.« Das Bild zeigt ein kleines Mädchen auf einem Bahndamm. Es hält den großen Hut fest und winkt dem Betrachter zu.

© 1998 by Anja Renner. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.


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