Roderich
von Carsten Bohnke

Gegen 17:30 rollten die deutschen Panzer über eine Brücke nahe Litovsk. Zwanzig Minuten später gab es inmitten eines Wäldchens Feindberührung. Eine Maschinenkanonengarbe hämmerte in Dauerfeuer gegen die Panzerung des ersten Tanks, so dass die Soldaten sich Ohren zuhalten mussten, um ihr Trommelfell zu schützen. Leutnant von Henrich, an der Spitze des Zuges aus der Panzerluke spähend, sah nur das schwachgelbe Mündungsfeuer der russischen Infanterie zwischen den Ästen und dem Dickicht des Birkenwäldchens. Die schwüle des Spätsommers hatte ihm Schweiß auf die Stirn getrieben. Gerade wollte er ihn sich mit dem Handrücken abwischen, da fühlte er einen dumpfen Schlag, und in dem Moment, als sein rechter Lungenflügel von einer Maschinengewehrkugel zerfetzt wurde, gebar ihm seine Frau im fernen Göttingen einen Sohn, den sie später Hans nennen sollte. Eigentlich hatte sie vor, ihn Siegfried zu nennen, wie im letzten Briefwechsel vereinbart, doch war sie eine ängstliche Natur und wollte als Kriegerwitwe jeden auffälligen Namen vermeiden. Hans wuchs etwas verstört auf, heiratete aus Standesbewusstsein und finanziellem Interesse die junge Baronesse von Ahlstedt, die ihm 1967 einen Sohn gebar, den beide eigentlich Meinrad nennen wollten. Im Frühjahr des gleichen Jahres überfuhr der aus Hannover kommende D-Zug 6843 jedoch das kleine Auto, mit dem Hans zu seinem Justiziar fahren wollte an einem unbeschrankten Bahnübergang nahe Kleevenbrück. So hatte die Baronesse letztlich alleine über den Namen des Jungen zu entscheiden und nannte ihn Roderich, da dies in ihren Ohren etwas standesgemäßer klang. Roderich ging auf Reisen, studierte Volkswirtschaft und nahm, da er aus Eigenwillen russisch gelernt hatte, eine gut bezahlte Stelle bei einer deutschen Bank in Moskau an. Des Sommers ging er mit Marika, seiner um zwei Jahre jüngeren Geliebten, in einem Birkenwäldchen spazieren. Als sie sich ihm hingab, inmitten des etwas scharfkantigen Grases, da war ihm, als ob er durch die Schwüle des Sommernachmittages das Hämmern eines Maschinengewehres hörte. Keuchend schob er sich über Marika, entblößte ihren Oberkörper und saugte an ihrer zapfenförmigen Brustwarze. Nein, er hatte nichts gehört, er war sich da ganz sicher. Es musste sich um eine Täuschung handeln. Und auch später im Leben, bei Verhandlungen vornehmlich, schob er das Geräusch auf äußere Umstände zurück, die erklärbar wenn auch nicht greifbar waren.

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