Martin
Aus der Portraitreihe »Saarländer fernab der Heimat«
von Markus Matt-Kellner

Kfz-Kennzeichen Saarbrücken

Martin ist in zunächst in St. Arnual aufgewachsen, während seiner Grundschulzeit verzog die Familie nach Malstatt und der Vater unbekannt. Fortan kümmerte sich die bereits jugendliche Schwester um Martin und seine Brüder, die Mutter musste viel arbeiten, um der Familie die materielle Existenz zu sichern. Die Bewältigung von Schwierigkeiten in Schule und Seelenleben war Aufgabe der Kinder selbst. Als ich Martin erstmals begegnete, war er siebzehn Jahre alt und hatte sich gerade seinen Realschulabschluss erkämpft. Er lud gerne ein, zu einem Glas Wein in der Altstadt oder einer Partie Flipper im Spielsalon; niemals erwartete er eine Gegenleistung. Seine Hilfe erhielt, wer diese erbat und er leitete daraus keinen Anspruch auf Ausgleich ab. Er störte sich nicht an den Eigentümlichkeiten seiner Mitmenschen, die Vielfältigkeit der Charaktere, das Anderssein sah er als eine Bereicherung des Lebens. Oft wurde er am St. Johanner Markt gesehen, gesellte sich auf ein Bier zu diesem oder jenem Grüppchen, doch unterwegs war er meist allein.
     Nach Fachabitur und kaufmännischer Ausbildung arbeitete er ein Jahrzehnt als Sachbearbeiter bei einem Betrieb in Malstatt. Er blieb bei seiner gesundheitlich angeschlagenen Mutter wohnen; seine Brüder - die Schwester waren lange ausgezogen. Zehn Jahre zwischen Betrieb, der Betreuung der zunehmend kränkeren Mutter und der Alleinversorgung des Haushaltes. Zehn Jahre auch voller Pläne, voller Wünsche - nach Weiterbildung, Partnerschaft und schönen Reisen. Zehn Jahre, fast dreißig in Malstatt insgesamt, an seiner Grundschule kam er täglich auf dem Weg zur Arbeit vorbei, der Bäcker kannte Martin schon als Kind und im Blickfeld des Küchenfensters lag noch immer der kleine Bolzplatz aus roter Erde, welche Martin mit seinen Brüdern früher oftmals über Stunden hinweg aufwirbelte, bevor die Schwester autoritätsbewusst zum Abendbrot hinüberrief.
     Im vergangenen Jahr ist Martins Mutter gestorben, anstatt schöner Reisen und Weiterbildung machte er sich auf den Weg nach Hamburg, um dort zu arbeiten und zu ver-arbeiten, was lange Zeit nah und sperrig an ihm lehnte. Martin hat seitdem viel Neues erlebt. Manchmal vermisst er die herzliche, offene Art der Menschen in Saarbrücken, die gelassene Lebensweise, den Geruch des nahen Lothringen. Er telefoniert bisweilen mit seiner Schwester und genießt es, für einmal nicht das Hochdeutsch zu reden, welches er sich hier aus Höflichkeit antrainiert hat. Einmal im Monat wird er am Wochenende am St. Johanner Markt gesehen, wie er sich für einige Momente zu diesem oder jenem Grüppchen gesellt, doch ansonsten alleine unterwegs ist.
     Am Sonntag, wenn der Zug in Richtung Hamburg anrollt, blickt er aus dem Fenster, sieht Preußenstrasse, Saar-Basar und Schafbrücke passieren und beinahe ist ihm, als läge jenseits des Zugfensters ein kleiner Bolzplatz aus roter Erde, welche drei eifrig spielende Jungs aufwirbeln, bis die große Schwester vernehmlich zum Abendbrot rufen wird.

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