Herr S. war seit mehreren Stunden durch die schwach beleuchteten Korridore des Bürogebäudes gegangen. Er zählte seine Schritte. Mit derselben Anzahl von Schritten maß er jeden seiner Rundgänge ab. Er sah nicht mehr auf, wenn er einen Zirkel beendet hatte, er hob die Hand nicht zum Gruße wenn er einem Kollegen begegnete. Er achtete nur auf den einen Strich, den er nach 1825 Schritten oder 30 Minuten und 25 Sekunden mit einem Puls von sechzig Schlägen passierte. Er schritt in einer Periode vier Stockwerke ab. Auf den Treppen verdoppelte er seine Schrittfrequenz. Da er einen Schritt in der Sekunde tun musste, pausierte er nach den 35 Stufen jeder Treppe für 35 Sekunden. Dadurch verlangsamte sich auch sein Puls wieder und er konnte seinen Weg fortsetzen. Er sah zu Beginn und am Ende seiner Schicht auf die Uhr. So konnte er überprüfen, ob er einen Fehler gemacht hatte. Stimmte die Zahl der Schritte nicht mit der Zahl der Sekunden überein, so verbrachte er den folgenden Tag mit Gedanken darüber, in welcher Runde, zu welcher Stunde, an welcher Ecke, bei welchem Schritt ihm dieses Missgeschick unterlaufen war. Da er von einem Schritt in der Sekunde ausging, maß er seinen Puls nach jeder Runde, indem er gehend den Zeigefinger seiner Rechten in eine kleine Vertiefung unterhalb des Handballens seiner linken Hand drückte und meist zufrieden feststellen konnte, dass sich sein Herzschlag in perfektem Einklang mit dem Rhythmus seiner Beine befand. Ging der Puls zu schnell, so verlangsamte er die nächste Runde ein wenig. Schlug der Puls bei 59 oder gar 58, so beschleunigte er seine Schritte vorsichtig. In einer perfekten Nachtschicht ging er sechzehn Runden oder 29.200 Schritte in acht Stunden, sechs Minuten und 40 Sekunden. »Wie schaffst du das bloß?«, hatten seine Kollegen nach den ersten Monaten gefragt. »Es ist meine Arbeit.«, hatte Herr S. geantwortet. »Aber du musst doch mal eine Pause machen.«, sagten sie. »Eine Pause bringt mich aus dem Tritt.«, sagte Herr S. über die Schulter, denn er hatte seinen Weg unbeirrt fortgesetzt während er angesprochen worden war. In dieser Nacht blieb er nach 12.125 Schritten stehen und griff sich mit beiden Händen an die Brust. Sein linker Arm schmerzte und seine Lippen waren taub. Er konnte sich an der Wand abstützen und fiel deshalb nicht zu Boden und tat so keinen unnötigen Schritt. Er hatte keine Angst vor dem Tod und seine Schmerzen taten ihm nicht weh. Er hatte Angst, nicht mitzählen zu können. Deshalb rief er die Anzahl seiner Herzschläge laut aus: »12.126! 12.127! 28! 29! 12.130! 31! 32!« Das ging nicht im gewohnten Gleichmaß aber Herr S. versäumte keinen Schlag. 500 Schläge lang blieb er an die Wand gelehnt stehen und er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, weil sein Herz mal schneller, mal langsamer geschlagen hatte. Erst mit dem zwölftausendzweihundertsiebenundzwanzigsten Schlag konnte er seinen nächsten Schritt tun. Der Weg war beschwerlich, doch als er merkte, dass er am Ende seiner Runde bei 1.825 angelangt war, schöpfte er neuen Mut. Manchmal musste er rasten. Aber die verloren gegangene Zeit versuchte er aufzuholen, indem er die Pausen nach den Treppengängen verkürzte. Er kam nach 29.199 Schritten in acht Stunden, sechs Minuten und 39 Sekunden an. Eine Sekunde, ein Schritt zu wenig. Aber die Zahl der Herzschläge stimmte. Herr S. brach zusammen und starb glücklich als freier Mann. In den letzten Sekunden dieses Lebens tat er noch einen tiefen Atemzug, der ihm köstlich und verdient vorkam, denn er hatte sich nicht dem gebeugt, was ihm vorgegeben zu sein schien: seinen Weg nicht zu Ende gehen zu dürfen.
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