Das Haus am See - von Marion Rädisch

 

Ich kann mich noch genau erinnern, wie es war, als ich mit meinen Eltern damals in jenes geheimnisvolle Haus am See einzog, dessen Einfluss mich mein Leben lang verfolgen sollte und mich schließlich an jenen Abgrund bringen würde, vor dem ich jetzt stehe. Schon als kleiner Knirps von acht Jahren hatte ich ein deutliches Gefühl dafür, wann irgendetwas nicht stimmte. Die Leute munkelten einiges über das Haus. Es hatte sich dort nämlich vor Jahren ein Schriftsteller umgebracht, angeblich weil er einer tödlichen Krankheit zuvorkommen wollte. Aber ich weiß es besser, heute zumindest. Jedenfalls sollte es in dem Haus spuken, was meinen Vater, einen aufgeklärten Chemiker, natürlich nicht im geringsten davon abhielt, das Haus zu erwerben. Und auch bei meiner Mutter, die immer ein offenes Ohr für meine Sorgen und Probleme hatte, stieß ich auf tiefes Unverständnis, als ich bereits kurz nach dem Einzug von meiner Angst bezüglich des Spukes sprach.
     »Sei nicht albern, Thomas,« sagte sie zu mir, »du bist doch schon ein großer Junge und wirst wohl nichts auf das Geschwätz der Bauern geben.«
     Ich gab aber doch was drauf, auch wenn ich es ihr nie wieder zeigte.

Man kann nicht sagen, dass in all diesen Jahren, die ich in dem Haus verbrachte, wirklich etwas passierte. Nie hörte ich nächtliches Kettenrasseln und Wimmern, nie sah ich einen Schatten vorüber huschen oder gar einen abgeschlagenen Kopf die Treppe herunter rollen, worin Spukerscheinungen meiner Lieblingslektüre zufolge bestehen mussten. Und dennoch, irgendetwas war anders als in den anderen Häusern. Wir waren aus der Stadt in diese einsame Gegend gezogen, was eine große Umstellung für mich bedeutete. Nicht nur, dass ich all meine Freunde verlassen musste, ich wusste einfach nicht, was man auf dem Lande spielt. Hinzu kam, dass mich die Kinder, die in dem Ort lebten, in dessen Nähe unser Haus stand, zu meiden schienen. Jedenfalls gelang es mir nicht, einen besonders guten Kontakt zu ihnen herzustellen. Mag sein, dass wir bereits als Kinder unbewusst Vorurteile gegeneinander hegten. Schließlich war ich der Junge aus der Großstadt mit den komischen studierten Eltern, die ja wohl was Besseres waren, wie die Landbevölkerung hier über uns tuschelte. Ein anderes war eben jenes Gemunkel über das Spukhaus, was es unmöglich machte, zumindest jene Kinder zu mir einzuladen, zu denen es mir gelungen war, wenigstens einen oberflächlichen Kontakt herzustellen. So wuchs ich nicht nur in Abgeschiedenheit, sondern auch in Einsamkeit auf, denn obwohl meine Eltern stets freundlich zu mir waren und liebevoll über mein leibliches und seelisches Wohl wachten, konnten sie mir doch nicht die Freundschaft zu Gleichaltrigen ersetzen. So kam es, dass ich bereits mit zehn Jahren in meiner Freizeit Unmengen von Büchern verschlang und außerdem angefangen hatte, selbst welche zu schreiben. Es ging mir leicht von der Hand, so leicht, dass ich mir einbildete, nicht ich, sondern ein fremder Geist, schriebe die Geschichten. Und was lag näher als anzunehmen, dass dies der auf so mysteriöse Weise ums Leben gekommene Schriftsteller war. Oft war es so, dass ich mich nur vor ein weißes Blatt Papier setzen, einen Stift in die Hand nehmen musste und schon glitt jener über das Papier, während ich aufgeregt las, war vor meinen Augen entstand. Ich hatte mir angewöhnt, eine tiefe Dankbarkeit für den unbekannten Schriftsteller zu empfinden, gleichzeitig aber fürchtete ich ihn wie den Leibhaftigen persönlich. Denn eines wusste ich nur zu gut aus meinen Gespenstergeschichten: Alles hat seinen Preis, nichts gibt es umsonst. Ich war der festen Überzeugung, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben, nur wusste ich noch nicht, wie hoch der Tribut sein würde, den ich zu entrichten hatte. Doch schon bald sollte ich es erahnen.

Meine Eltern hatten mich auf 's Gymnasium geschickt, dort ging es nicht viel besser mit meinen Klassenkameraden. Auch hier wollte sich kein rechter Kontakt einstellen. Zu lange war ich es gewohnt, allein zu sein und zu sehr drängte es mich, nach Hause an meinen Schreibtisch zu kommen. Wie auf dem Lande üblich, dominierte der Sport als Freizeitbetätigung. Ich war ein denkbar unsportliches Kerlchen. Obwohl mager, fast ein Leptosom, litt ich an Kurzatmigkeit, hinzu kam eine starke Kurzsichtigkeit. Dies trug mir ebenfalls nicht gerade die Sympathien meiner Mitschüler ein. Und noch immer lastete der Fluch des Hauses auf mir. Noch immer sah man mich merkwürdig an, obwohl wir doch jetzt in einem Alter waren, in dem wir an solch einen Spuk nicht mehr glauben sollten, schon gar nicht als aufgeklärte Gymnasiasten. Ein Junge, klein und dick, mit einem Gesicht voller Akne, suchte Kontakt zu mir. Auch er war unsportlich und bei den anderen nicht besonders beliebt. Doch ich wollte diese Freundschaft nicht. Denn auch, wenn man es mir noch nicht anmerkte: Ich war kein Verlierer. Ich war ein Gewinner.

Mit achtzehn Jahren verließ ich mein Elternhaus und das des Schriftstellers. Ich zog wieder in die Stadt, aus der ich einst gekommen war. Begierig atmete ich ihren Duft ein und fühlte mich sofort heimisch, so als wäre ich die letzten zehn Jahre im Exil gewesen. Ich studierte Literaturwissenschaften und Philosophie, sehr zur Betrübnis meiner Eltern, für die das Studium der Geisteswissenschaften ein unfruchtbares Betätigungsfeld war, mit Sicherheit nicht für den täglichen Broterwerb geeignet. Doch sie sollten irren. Ich hatte nie aufgehört zu schreiben und mich eines Tages an einen Verlag gewandt. Und war es nun Glück oder dem Einfluss des unseligen Schriftstellers zuzuschreiben, meine Geschichten gefielen, kamen an und schon bald sollte ich mich auf den Bestsellerlisten wieder finden. Doch trotz meines Ruhmes beendete ich mein Studium, ja promovierte sogar. Was sollte ich auch anderes tun, denn obwohl mittlerweile erwachsen, war mir der Kontakt zu anderen Menschen verschlossen. Ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte, jemanden kennen zu lernen, und vor dem anderen Geschlecht fürchtete ich mich wie vor einem bösartigen Tier. Auch mich sah man aus gebührender Entfernung an, als käme ich von einem anderen Stern oder hätte die Pest am Leibe. So bestand der Tribut, den ich an jenen unbekannten Hausherrn zahlte, wohl darin, mein Leben lang einsam zu sein.

Ich hatte gerade mein vierzigstes Lebensjahr erreicht, als mein Vater starb und kurz darauf auch meine Mutter. Sie waren einander sehr zugetan und konnten einer ohne den anderen nicht überleben. Derweil leuchtete mein Stern. Jede Zeitung berichtete über mich und meine Begabung, die es mir gestattete, jedes Jahr einen abgeschlossenen Roman vorzulegen. Ein bekannter Literaturkritiker wollte in mir eine Reinkarnation jenes Schriftstellers sehen, der in den Vierzigerjahren auf so geheimnisvolle Weise sein Leben gelassen hatte. Es waren damals Untersuchungen angestellt, aber nie aufgeklärt worden, ob der Mann von eigener oder fremder Hand starb. Auch, was es mit jener angeblich tödlichen Krankheit auf sich hatte, war nie herausgefunden worden, denn der Schriftsteller war seit Jahren ein Eigenbrötler gewesen. Die Dorfbevölkerung hatte ihn kaum noch zu Gesicht bekommen. Außerdem hatte er die letzten Jahre vor seinem Tod so gut wie nichts mehr produziert. Es war merkwürdig, dass man gerade jetzt diesen mysteriösen Fall wieder aufrollte und mich mit ihm in Verbindung brachte, als ich mich anschickte, mein städtisches Leben zu verlassen und in jenes unselige Haus zurückzukehren, das mir so viel Glück und Unglück gebracht hatte. Irgendetwas hielt mich davon ab, es zu verkaufen. Tief in meinem Innersten wusste ich, dass nun die Zeit gekommen war, meinen eigentlichen Tribut zu entrichten.

Alles war noch genauso wie damals. Die Einwohner, denen ich begegnete, als ich durch ihr Dorf fuhr, schauten mich skeptisch an. In einigen glaubte ich, meine ehemaligen Schulkameraden zu erkennen, doch sie zeigten kein Zeichen des Wiedererkennens. Mag es nun an der alten Zurückhaltung liegen oder daran, dass man in mir den berühmten Mann sah, jedenfalls schlug mir eine tiefe Skepsis entgegen. Ich hatte das Haus seit Jahren nicht mehr betreten. Anfangs hatten meine Eltern sich darüber beklagt, dass ich sie nie besuchte, dann aber fanden sie sich ab und akzeptierten meine Entscheidung, dem Haus fern zu bleiben. Konnte es mich wundern, dass ich die Einrichtung, selbst die in meinem Jugendzimmer unverändert vorfand? Was war meinen Eltern schließlich von mir geblieben, als die Erinnerungen, die sie dort einschlossen und verwahrten? Auch ich veränderte nichts. Bis auf die Küche und das Jugendzimmer, in dem ich fortan leben wollte, ließ ich die Möbel mit den weißen Tüchern verhüllt, wie ich sie vorgefunden. Das Einzige, was hinzu kam: ein paar Bücher und meine Schreibmaschine. Wieder lebte ich in Einsamkeit. Anfangs machte es mir nichts aus, warum auch, ich war es ja gewohnt. Dann aber trat eine Veränderung in mein Leben, langsam, schleichend. Der Schriftsteller hörte auf zu schreiben. Ja, es klingt komisch, aber noch immer, nach all den Jahren, glaube ich daran, dass nicht ich die Geschichten erfand, sondern der Schriftsteller. Und jetzt, wo ich zurückgekehrt war, hörte er auf, versagte mir den Dienst. Ich merkte es nur allmählich, denn auch, wenn mir das Schreiben nicht mehr so locker aus der Hand floss, wie ich es gewohnt war, brachte ich doch etwas zu Papier. Aber meine Unzufriedenheit nahm zu. Alles, was ich schrieb, hörte sich dumm, albern, leer an. Die Stimme in mir schwieg. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass ich, ich selbst, schreiben würde. Und ich war entsetzt, denn ich erkannte, dass ich gar nicht schreiben konnte. All die Jahre hatte ich die Leser, meine Verleger, ja mich selbst getäuscht. Diese Erkenntnis war so furchtbar, dass ich immer weniger schrieb und schließlich ganz aufhörte.

Und jetzt stehe ich an jenem Abgrund, an jener letzten Schwelle, die mich und den Schriftsteller wieder vereinen wird. Ich kenne nun meinen Tribut und ich kenne das furchtbare Geheimnis des Schriftstellers. Auch er muss einst hier gestanden haben, mit dem Blick auf das geknüpfte Seil, der schrecklichen Angst vor dem letzten Schritt und der Gewissheit, nur diesen einen gehen zu können. Genau wie ich heute, hatte der Schriftsteller damals die Sprache verloren, das war die tödliche Krankheit, von der er heimgesucht worden war. Und er war genauso einsam wie ich, kannte keine Menschenseele, die ihn womöglich hätte halten können. Nach meinem Tod wird wieder ein kleiner Junge mit seinen Eltern in dieses Haus einziehen. Er wird einsam sein und er wird unser Werk fortsetzen. Aber ich werde diesen Fluch durchbrechen. Anders als der Schriftsteller habe ich vorgesorgt. Niemand wird mehr in das Haus am See einziehen. Ich habe genug von meinem Vater gelernt, um zu wissen, wie man einen kleinen Brandsatz baut. Mit mir wird das ganze Haus in die Luft fliegen.
     Dann wird Ruhe sein.




© Text 1997 by Marion Rädisch.
© Zeichnung 1997 by Wolfgang Tischer.
Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.
 

ZurückSeitenanfangWeiter